Argentinien


Nord-West-Argentinien III

 

Ausnahmezustand in Tucumán - Argentinien, ein Land voller Überraschungen

 

Von Jörg Schwarz

 

Rasante Inflation, schwächelnde Wirtschaft und Krise des Finanzsystems. Staatsbankrott, hoher Schuldenstand und damit einhergehende soziale Verwerfungen. Natürlich kennt man solche Themen und Schlagzeilen zu Argentinien. Natürlich weiß man, dass die staatliche Ordnung in diesem eigentlich reichen Land immer kurz vor dem Einbruch des Furors, vor dem Zusammenbruch der Ordnung steht. Hier kann es immer schnell gehen, in diesen Jahren der Krise. Das wußten wir, als wir hierhin aufbrachen und haben es gleichwohl getan.

 

Aber wenn es dann passiert und man ist mittendrin... Na, seht selbst!

 

Was für ein Ort zum Entspannen: Unsere traumhafte Cabana in Tafi del Valle (Foto Jörg Schwarz)
Was für ein Ort zum Entspannen: Unsere traumhafte Cabana in Tafi del Valle (Foto Jörg Schwarz)

Da wir aufreibende berufliche Monate in Deutschland und eine anstrengende Anreise hinter uns haben, genehmigen wir uns in Tafí del Valle, Region Tucumán, zunächst ein paar ruhige und erholsame Tage, bevor wir uns auf die Piste machen wollen.

 

Tafí del Valle, auf 2.100 m Höhe malerisch in der Sierra del Aconquija gelegen, ist ein von bis zu 4.600 m hohen Bergen umgebenes, traumhaft schönes Anden-Tal, das von den Menschen der Region touristisch und als Sommerresidenz genutzt wird. "Wenn es in Tucumán zu heiß wird", sagt man – und das wird es im Sommer eigentlich immer –, "dann bietet die klare, frische Luft hier oben angenehme Abkühlung, dann kann man hier oben dem urbanen Smog und dem Trubel einer der größten Städte des Landes – zugleich Wiege der Unabhängigkeit Argentiniens – wunderbar entfliehen".

 

Als wir das Flughafenterminal in Tucumán verlassen – das Thermometer zeigt 40 Grad Celsius und es ist unfassbar schwül – steht für uns tatsächlich sofort fest:

 

Gehe nicht über Tucumán, gehe direkt nach Tafí!

 

Tafi del Valle, Tucuman Tucumán
Blick in die Sierra del Aconquija (Foto Jörg Schwarz)
Ungewohnte Haustiere: Lamas sind in Tafi del Valle unsere Nachbarn (Foto Jörg Schwarz)
Ungewohnte Haustiere: Lamas sind in Tafi del Valle unsere Nachbarn (Foto Jörg Schwarz)

 

In seinem klapprigen Taxi fährt uns Diego, ein freundlicher, 76 Jahre alter Herr, der uns am Ausgang des Flughafens in aller Ruhe und Bescheidenheit angesprochen hat, um die Stadt herum. „Was für eine Hitze heute!“, klagt er und verdreht die Augen in seinem unklimatisierten Gefährt. Der Fahrtwind durchs offene Fenster ist ein Segen und macht das Klima etwas erträglicher. Wirklich angenehmer aber wird es erst oben in den Bergen. Es geht an den engen, üppig grün bewachsenen Schluchten des Rio de los Sosas entlang, der kaum Wasser führt, Kurve um Kurve die nicht enden wollenden Serpentinen hinauf, am Dique de Angostura vorbei zu unserem Aufenthaltsort für die nächsten Tage.

 

Wir haben uns für eine Cabaña entschieden, die am Fuße kahler Bergrücken etwas außerhalb des kleinen Ortes liegt. Es gibt ein paar schöne Häuschen hier, Lamas und eben jene Abgeschiedenheit, die wir gerade für unsere ersten Tage in Südamerika suchen. „Die Saison ist eigentlich schon vorbei“ erklärt uns Diego bei unserer Ankunft die Tatsache, dass wir ganz offenbar die einzigen Gäste sind, „bald werde es hier oben viel regnen!“

 

Wir haben allerdings zunächst Sonne satt und erfreuen uns gerade der Tatsache, dass aufgrund des zu erwartenden Wetterumschwungs kaum noch Touristen in dem Ort sind.

 

Die Umgebung läd zum Wandern ein: Der Cerro Matadero - im Vordergrund (Foto Jörg Schwarz)
Die Umgebung läd zum Wandern ein: Der Cerro Matadero - im Vordergrund (Foto Jörg Schwarz)

 

Ein paar Tage genießen wir den Blick aus unserem saftig grünen Garten in das weitläufige Tal, lesen Bücher, beobachten wild kopulierende Sittichpärchen in den Bäumen und lassen es uns in der Hängematte einfach gutgehen. Wir erwandern den Bergrücken des Cerro del Matadero und entdecken das kleine Örtchen, deren Bewohner sehr schmackhaften Käse und Schinken produzieren. Erst als sich die Prophezeiungen nach fünf Tagen bewahrheiten, die Wolken nun regelrecht in das Tal hineinkriechen und sich nicht mehr vor noch zurück bewegen, entschließen wir uns zum Aufbruch.

 

Leider platzen aber bereits unsere ersten Reisepläne wie Seifenblasen im Regen…

 

„Es hat seit Tagen auch in der Sierra stark geregnet“, heißt es, „die Ruta 40 ist (entlang unserer geplanten Route über Bélen) derzeit unpassierbar. Vielleicht ist es in drei bis vier Tagen zu reparieren, wer weiß das schon… Willkommen in Argentinien!“.

 

Obwohl wir sehr enttäuscht sind, beschließen wir kurzerhand unser erstes Zwischenziel - Chilecito, in der Region San Juan - über eine weiter östlich gelegene Route über Catamarca und Rioja zu erreichen. In Chilecito wollen wir Weihnachten verbringen. Wir beschließen also aus dem Umstand einen Vorteil zu machen und Geld zu sparen: Statt des geplanten Mietwagens nehmen wir zunächst einfach den Bus in Richtung Tucumán.

 

Eine Busfahrt zum Fürchten!

Die Fahrt ist sehr angenehm, die Serpentinen hinunter nach Tucumán sind im Bus leichter verdaulich als im Kleinwagen von Diego. Während wir die Berge verlassen und von Ort zu Ort nach Tucumán rollen, erleben wir unser erstes Abenteuer in Argentinien: Der Bus verlangsamt nach und nach sein Tempo. Aufgeregt und aus dem Nichts in den oberen Teil des Busses kommend, bittet ein Begleiter des Fahrers alle Passagiere Ruhe zu bewahren: „Vorhänge zu - nicht am Fenster zeigen." Und - mit Blick auf uns gerichtet - „die Kameras weg!“, sagt er noch. Es kommt ein wenig Unruhe auf, fragende Gesichter im Bus. „Eine Straßensperre“ heißt es lapidar und "Saqueos" - den meisten Menschen an Bord scheint das etwas zu sagen – uns leider nicht, die wir uns in den vergangenen Tagen etwas naiv von Informationen der Außenwelt gänzlich abgekoppelt hatten.

Immer mehr Regenwolken kriechen in das Tal (Foto Jörg Schwarz)
Immer mehr Regenwolken kriechen in das Tal (Foto Jörg Schwarz)

Am Vorhang vorbei sehen wir aus dem Fenster eine Menschenmenge, die den Bus schließlich gänzlich zum Stehen bringt. Die Türen des Busses öffnen sich: Stimmengewirr. Erst ein weiterer Blick aus dem Fensterschlitz beunruhigt uns nun wirklich: „Der hat ja ein Gewehr!“, höre ich neben mir etwas ungläubig sagen und spüre, wie mir plötzlich heiß wird. Ich verstecke nun wirklich die Kamera ganz unten im Rucksack... Und tatsächlich: einzelne Männer da draußen tragen Gewehre, andere Heugabeln oder Knüppel. Gedanken schießen uns durch den Kopf: „Ein Überfall“? Nein, die sehen nicht wirklich gefährlich aus. Keinerlei Aggressionen in Sicht. Frauen und Männer stehen da einfach herum, lachen sogar hier und da und richten ihre Aufmerksamkeit auf das, was unser Fahrer zu sagen oder zu fragen hat. Es bleibt gleichwohl ein komisches Gefühl.

 

Als der Bus seine Türen wieder schließt und weiter rollt erkennen wir durch einen Schlitz hindurch die Straßensperre, die den Bus zum Halten veranlasst hatte. Unser Sitznachbar versucht uns das Geschehen da draußen zu erklären: Wir sollen uns keine Sorgen machen, beruhigt er, das sind Leute aus dem ‚Dorf Sowieso‘, die hier nur sich selbst und ihre Geschäfte schützen. „Wir haben vor ihnen wahrscheinlich - und dieses eine Wort macht dann doch wieder alle Beruhigung zunichte - nichts zu befürchten“. Aber in Tucumán, so erfahren wir, sei es zu Ausschreitungen, Plünderungen und Toten gekommen, es sei nicht sicher, ob wir in die Stadt einfahren können. Noch leicht benommen verstehen wir – auch wegen unserer verbesserungswürdigen Spanischkenntnisse – nur die Hälfte. Ein bisschen beruhigen uns die Worte, ein bisschen werfen sie Rätsel auf... Gemeinsam mit Carina, einer Deutschen, die mit uns im Bus sitzt, versuchen wir uns einen Reim zu machen. Auch die Erklärung, die der Beifahrer nun offiziell an die Mitfahrer gibt, löst nicht alle Fragen auf: „Wir werden versuchen, die Stadt irgendwie zu umfahren und ins Zentrum vorzudringen, vielleicht müssen wir uns aber darauf einstellen, nur bis Yerba Buena zu kommen“ – einem Ortsteil außerhalb des Zentrums, wie wir später erfahren. „Bitte bewahren Sie Ruhe und lassen Sie die Vorhänge geschlossen.“ Erneut streift insbesondere uns ein Blick...

 

Während wir nun alarmiert von Ortschaft zu Ortschaft in Richtung Tucumán rollen und mehrfach nach gleichem Prozedere gestoppt werden, beunruhigen uns mehr und mehr die Eindrücke und Beobachtungen, die wir von der näher kommenden Großstadt durch die kleinen Vorhangöffnungen erheischen können: „Hammer“, denke ich, „die ganze Stadt brennt“. Der Horizont – die gesamte Breite, die eigentlich Tucumáns Silhouette hätte sein sollen – qualmt, ist voller Rauchschwaden. Je näher wir kommen desto mehr können wir das jetzt auch riechen, desto klarer wird aber auch, dass der Qualm von brennenden Reifen und Straßensperren stammt, die die Menschen mitten auf den Straßenkreuzungen errichtet haben. Der Bus wird bei der Einfahrt in die City immer wieder durch brennende Barrikaden gestoppt, umgeleitet und wieder gestoppt. nach einer Stunde fahren wir – geleitet durch oft bewaffnete Männer und Frauen an den Straßensperren – auf einen mit einer hohen Mauer geschützten Hof – offenbar ein Busparkplatz. „Erstmal sind wir in Sicherheit“, heißt es.

 

Erst im Hostel holen wir die Kamera wieder raus: Die Kaufleute im Kiez präparieren sich für lauten Protest (Foto Jörg Schwarz)
Erst im Hostel holen wir die Kamera wieder raus: Die Kaufleute im Kiez präparieren sich für lauten Protest (Foto Jörg Schwarz)

Nachdem wir nach kurzer Wartezeit von unserem Überlandbus in einen Stadtbus wechselnd, in das Zentrum fahren und unser Hostel sicher erreichen, erfahren wir, was es mit den „brennenden Barrikaden“ auf sich hat: Argentinien sei von einem landesweiten Polizeistreik betroffen. Die Polizisten hätten die Arbeit niedergelegt, um angesichts horrender Inflation im Land mehr Gehalt zu erzwingen. In zahlreichen Städten des Landes sei es daraufhin zu Plünderungen (Saqueos) und Übergriffen auf Supermärkte und Geschäfte gekommen, es habe Tote und Verletzte gegeben – auch in Tucumán. Die Barrikaden würden von rechtschaffenden Bürgern zur Selbstverteidigung und zum Schutz vor eben diesen Plünderern errichtet, da die Polizei ihren Job nicht mehr erledige. Die staatliche Ordnung sei – und man merkt, dass das auch für die Argentinier nur schwer verdaulich ist – schlicht außer Kraft gesetzt! Noch während wir am Abend vom Balkon unseres Hostels auf die Kreuzung davor schauen, deutlich ruhiger und im Gefühl von Sicherheit, trommeln die Anwohner und Eigentümer der angrenzenden Geschäfte rhythmisch auf Kochtöpfe und metallene Gefäße. Sie demonstrieren damit ihren Protest und ihre Wehrhaftigkeit gleichermaßen.

 

Die Geschichte Riojas muss ein anderes mal erzählt werden - schöne Streetart ist uns aber aufgefallen! (Foto Jörg Schwarz)
Die Geschichte Riojas muss ein anderes mal erzählt werden - schöne Streetart ist uns aber aufgefallen! (Foto Jörg Schwarz)

Am Tag danach ist der Saqueos-Spuk in Tucumán vorbei – die Provinzregierung hat den Forderungen der Polizei trotz leerer Kassen nachgegeben... Argentinien zeigt sich uns in diesen Tagen als ein Land am Rande des Chaos. Ein paar Tage noch hören wir ähnliche Geschichten aus anderen Regionen, dann kehrt wieder Ruhe ein. Dennoch wird uns plötzlich klar, was öffentliche Sicherheit und Ordnung bedeuten, was – nicht nur in Argentinien – mit Finanz- und Wirtschaftskrisen auf dem Spiel steht…

 

Wir verlassen unser phantastisches Hostel - A la Gurda Hostel - eines der besten Hostels Argentiniens, das wir ohne den Streik sicher nicht aufgesucht hätten, weil wir es nur durch unsere deutsche Reisebekanntschaft und die Umstände kennengelernt haben, nur ungern und reisen weiter über Rioja nach Chilecito. Weihnachten steht vor der Tür. Mal sehen was uns da erwartet, in diesem offenbar unkalkulierbaren Land...

 


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