Das Spurenwechsler-Interview -

Der große Traum vom Reisen | Eine Zwischenbilanz

Interview der Spuren | WECHSLER mit sich selbst...

 


Buenos Dias, Spurenwechsler!
 

Gut ein halbes Jahr ist es her, seit wir uns vor Eurer Reise über Eure Idee und Eure Pläne unterhalten haben. Ihr seid jetzt fast 5 Monate unterwegs: Zeit mal nachzufragen: Wie geht es Euch und was macht Eure Idee?

 

Wahnsinn wie die Zeit vergeht… Ist aber auch kein Wunder, denn wir haben hier seit unserem Aufbruch auch fast jeden Tag Außergewöhnliches und Spannendes erlebt und verändern uns auch selbst jeden Tag ein Stück weiter.

 

Es geht uns richtig gut! Peru und Bolivien haben sich als genau die Reiseländer gezeigt, die wir uns erhofft hatten. Voll von landschaftlichen und kulturellen Höhepunkten, gespickt mit Geschichte und einer interessanten Gegenwart, dazu leicht, individuell und günstig zu bereisen. Wir haben die ersten Monate sehr genossen und genießen sie noch. 

 

Was fasziniert Euch so an den Andenstaaten?

 

Vieles! Da ist zunächst mal die faszinierende Natur. Wir sind ja fast ausschließlich und wunschgemäß im Hochland unterwegs gewesen und sind begeistert von der atemberaubenden und im wahrsten Sinne atem( )raubenden Bergwelt. Wir erleben hier schneebedeckte Gipfel im Überfluss, angsteinflößende Schluchten und Canons, farbige Lagunen, die leuchtende Puna mit ihren geschwungenen goldgelb strahlenden Gräsern 

DAS große Zeichen, der Signifikant Perus: Machu Picchu, Peru (Foto Jörg Schwarz)
DAS große Zeichen, der Signifikant Perus: Machu Picchu, Peru (Foto Jörg Schwarz)


oder saftig-grüne Täler. Wasserfälle flankieren unsere Reise, typische Andentiere – zuletzt Kondore oder unzählige Kolibris – sind allgegenwärtig und wir haben in den 4,5 Monaten nur wenige Tage keine Sonne gehabt… Fährt man durch das Land traut man häufig seinen Augen nicht, angesichts der spektakulär gefalteten Landschaften in denen die Einheimischen hier gleichwohl Ackerbau betreiben.

 

Dazu erleben wir faszinierende, quirlige oder auch mal verträumte Hochlandstädte mit kolonialem Flair, zurückhaltenden, aber freundlichen, hilfsbereiten und beeindruckenden Menschen sowie im Schnitt guten Unterkünften und Restaurants. Das Leben ist für den Reisenden hier sehr sehr einfach und angenehm, dazu vergleichsweise günstig und sicher. Kulinarisch haben wir interessante Entdeckungen gemacht, auch wenn wir gerade froh sind, in Arequipa mal wieder einen guten Inder aufgetan zu haben… Wir können uns hier wunderbar treiben lassen.

 

Geschichte ist hier fast überall gegenwärtig. Wir haben vielzählige interessante Spuren alter Gesellschaften in den faszinierendsten Terrains gesehen, seien es Spuren der Inka, anderer Völker der Anden oder eben der kolonialen Zeit. Faszinierende archäologische Stätten, abgetragene Bergkuppen und Terrassenlandschaften in den höchsten Lagen nötigen uns immer wieder Respekt ab. Sie lassen sich dazu hervorragend im ruhigen Reisemodus erschließen, weil sie nahezu alle durch Wanderwege oder alte Inkatrails bestens erschlossen sind. Dazu informative Museen, moderne Galerien – Peru und Bolivien sind einfach spannende Pflaster.

 

Und dennoch gilt für Peru und Bolivien, was genauso anderswo feststellbar ist: Die globalisierte und kapitalistische Welt hält mehr als rapide Einzug und verdrängt die tradierten Lebenswelten…

 

Das stimmt und der Prozess ist schon weit fortgeschritten, mehr als wir zuvor von diesen beiden Ländern geglaubt hatten. In beiden Ländern existieren unterschiedliche Lebenswelten mit widerstreitenden Wahrheiten und Idealen nebeneinander her und vermischen sich zunehmend. Konflikte sind allgegenwärtig. Natürlich wird die moderne Lebensart – man kann das beklagen oder nicht – sich am Ende behaupten, schon heute sieht man Cholitas im Colectivo permanent am Handy daddeln oder große Geländewagen die handgeschobenen Lastenkarren von der Straße drängen… Gleichwohl sehen wir überall im Land noch vielzählig das typische Andenleben: Menschen in bunten und traditionell bestickten Trachten mit den wunderbaren Kopfbedeckungen aller Arten, landwirtschaftliche Produktion und Produkte wie zu alten Zeiten, uralt anmutende Häuser- und Dorfgemeinschaften in  meist dunklen Adobehäuschen... In dieser Lebenswelt scheint das Leben in einer völlig anderen Zeit stattzufinden.

 

Das Verschwinden der traditionellen Andenkulturen mit all dem unschätzbaren Wissen der Indios ist sicher ein riesen Jammer. Gleichwohl tut Veränderung auch Not: Das Leben als Campesino in Bolivien oder Peru ist sicher auch nicht nur angenehm. Wir sehen sehr viel bittere und greifbare Armut, extrem eingeschränkte Versorgungssituationen (z.B. haben viele Bauern und ihre Familien oberhalb von 4.000 m gerade mal Kartoffeln oder Bohnen und wenig Abwechslung in der täglichen Ernährung) und vor allem ältere Indigenas – besonders alte Frauen - fristen oft ein sehr trauriges Dasein als Almosensammlerinnen auf der Straße… Hoffentlich finden die beiden Staaten Wege, das Gute zu bewahren und das weniger Gute sozialverträglich und gerecht in die Zukunft zu führen.

 

Wie auch immer: In beiden Ländern erleben wir einen spannenden und gleichwohl explosiven Mix, in den wir gern eintauchen, gerade weil die extremen Welten hier teils in Reinform aufeinanderprallen und jeweils für sich ein Studium wert sind, aber auch die daraus gemachte Dynamik uns fasziniert.

 

Traditionelle Trachten und Kunsthandwerk der Region - Aber alles im Dienste der Tourismusindustrie und damit ganz sicher nicht das wahre Peru... (Foto Jörg Schwarz)
Traditionelle Trachten und Kunsthandwerk der Region - Aber alles im Dienste der Tourismusindustrie und damit ganz sicher nicht das wahre Peru... (Foto Jörg Schwarz)

 

Jetzt habt Ihr Euch ja bewusst zu einem echten Spurenwechsel entschlossen. Das Reisen sollte mehr sein als ein Urlaubstrip, weshalb Ihr das Projekt ja auch längerfristig angelegt habt. Was ist daraus geworden?

 

Es ist im Grunde genauso gekommen, wie wir es erwartet und erhofft hatten. Als wir vor ein paar Jahren im Rahmen eines 4-monatigen Sabbaticals gereist sind, da haben wir nach gut 3 Monaten gemerkt, dass sich bei uns irgendwas verändert hatte, wir waren in einer anderen Realität mit verändertem Bewusstsein bezüglich des Reisens und darüber hinaus angekommen und waren dann recht enttäuscht, als einen weiteren Monat später alles vorbei war. Damals fiel der Entschluss, dieser anderen Realität dieses Mal mehr Zeit zu geben, um zu schauen, was das mit uns macht. Wir haben das dann mit der Formel des Spurenwechsels belegt und sind ja gerade mitten in diesem Wechsel der SPUR…

 

Uns war auch klar, dass wir nach den vorhergehenden Monaten und Jahren ziemlich stressiger und intensiver Arbeit – ich war als Führungskraft angestellt und leitete bis zum letzten Tag mehrere Projekte – erstmal runterkommen mussten. Das war auch so, sodass wir erstmal klassischen Urlaub gemacht haben. Wir haben uns mit der Neugierde, die wir nun mal für andere Länder und das Leben haben, in ein neues Land gestürzt, fantastische Sehenswürdigkeiten besichtigt und Natur erkundet, haben uns aktiv erholen und uns im wahrsten Sinne des Wortes zu ‚entspannen‘ versucht - worunter ich vor allem eine langsame Entwöhnung von den antrainierten Verhaltensmustern und Geschwindigkeiten des Arbeitsalltags verstehe, die mit unserem bisherigen Leben einhergingen. Dazu gehörte eine unfassbare zeitliche Taktung, ständige Fremdbestimmung und wenig Freiraum für Müßiggang. Davon muss man sich erstmal freimachen…

 

Also war – bevor wir noch ins echte Reisen gekommen sind - in den ersten Wochen erstmal Urlaub angesagt: Arbeit Arbeit sein lassen, den Geist mit neuen Inhalten füttern, den Körper zunehmend runterkommen und verlangsamen, alles insgesamt relaxter und mit der gebotenen Ruhe angehen lassen. Ausschlafen, einen neuen Rhythmus finden, Pausen und Phasen des Müßiggangs bewusst einbauen. Wir sind nun seit einiger Zeit dabei die Tanks aufzufüllen und unser Leben sukzessive zu entschleunigen, während wir uns individuell und selbstbestimmt neue Reiseziele erschließen. Der Prozess dauert weiter an…

 

Was hat sich seither verändert?

 

Wir unterscheiden seit geraumer Zeit Urlaub und Reisen. Urlaub – wir haben selbst viele Jahre Urlaube gemacht, gebraucht, geliebt… - ist für uns mittlerweile eher eine zwiespältige Kehrseite, ein Negativum zur modernen Arbeitswelt. Urlaub im heutigen Verständnis hat es ja früher (vor der modernen industriellen Art Arbeit zu verstehen und zu bewerten) auch gar nicht gegeben. Urlaub definiert sich für uns als ‚andere Seite‘ der Arbeit, gerade so bemessen, dass wir arbeitsfähig bleiben und uns für die oben beschriebenen Plackereien wieder gut erholen, um weiter unserem Arbeitszweck zu dienen… Erholung für die Arbeit oder gar Flucht vor der Arbeit, ein kurzfristiges abtauchen, das eine Atempause gewährt. Urlaub bleibt - egal in welcher Form - immer in gewissem Maße an die Arbeit gebunden, weil sie ihr dient, indem sie für kurze Zeit uns dient… Man muss das gar nicht kritisieren oder beklagen – aber bewusst machen sollte man sich das vielleicht schon.

 

Und die Kürze, die kurze Zeit eines Urlaubs – die meisten Menschen, die uns in Südamerika gerade begegnen sind hier notgedrungen für zwei oder drei, in Ausnahmefällen vier oder auch mal mehr Wochen unterwegs – verändert aber ‚das Reisen‘ elementar. Wir behaupten: Der Urlaubsmodus ist meistens gar kein Reisen! Je länger wir hier im Selbstversuch unterwegs sind, desto mehr fällt uns das natürlich auf – auch, weil wir mit der Länge unserer eigenen Reise, mit dem sich verändernden Bewusstsein dafür, anders auf das touristische Geschehen hier blicken können. Wir nehmen wahr, dass die weit meisten Menschen sich – und das ist kein Vorwurf, sondern schlichte Beobachtung – gar nicht richtig auf ihr Reiseland einlassen (können).

 

Natürlich spielen Cholitas wahnsinnig gern Fußball, bei Andahuaylas, Peru (Foto Jörg Schwarz)
Natürlich spielen Cholitas wahnsinnig gern Fußball, bei Andahuaylas, Peru (Foto Jörg Schwarz)

 

Woran macht Ihr das fest? Und was macht Ihr anders?

 

Die weit meisten Touristen – das betrifft wenigstens die letzten Wochen auf dem sog. Gringotrail hier in Peru, also die Haupttouristenroute – gehen so vor, dass sie möglichst viel – das betrifft neben Aktivitäten und Sehenswürdigkeiten auch Erwartungen an das Reiseland - in ihren kurzen Urlaub reinpacken (wie wir es zu Beginn und früher auch selbst getan haben – schließlich will man für seinen teuren Flug auch ordentlich was mitnehmen…). Viele bleiben hier in Peru, fest am Reiseführer orientiert, reißen im wahrsten Sinne des Wortes die hot spots ab, hetzen von Ort zu Ort und nutzen die Nächte zum Busfahren, um am Tage noch nen Kochkurs machen zu können. Sie bleiben auf diese Weise meist im bekannten Modus des „normalen“ Lebens- und Arbeitstempos für das sie zu Hause konditioniert wurden. Auch daraus würden wir niemandem einen Vorwurf machen. Eine Entschleunigung und damit eine Voraussetzung für ein tieferes Eintauchen in eine fremde Umgebung oder ein spontanes und offenes Einlassen auf Reiseführer unabhängige Ziele aber, sind auf diesem Weg nahezu ausgeschlossen.

 

Zwei Beispiele:

Wir sind bewusst zu Beginn unserer Reise in das Zentrale Hochland Perus gereist – eine weitgehend nicht touristische Region mit gleichwohl wundervollen Zielen und unprätentiösen Menschen sowie für uns faszinierenden und überraschenden Erlebnissen und Erfahrungen. Wir sind mit den Menschen gereist, haben ein ‚authentisches Peru‘ erlebt – mit allen Vor- und Nachteilen, die das haben kann – und haben das in aller Langsamkeit getan, die das Reisen aus unserer Sicht braucht und die wir selber brauchten. Es war uns möglich Peru auf eine Weise zu begegnen, die gerade nicht schon zu Beginn von der Tourismusindustrie und ihren vorgefertigten Hochglanzbildern geprägt war. Erst in den vergangenen Wochen sind wir auf den Gringotrail eingekehrt – nachdem wir aus Bolivien zurückgekehrt sind – und stellen fest: Die meisten anderen Besucher des Landes machen es komplett anders herum: Die meisten werden das Zentrale Hochland vermutlich niemals kennenlernen. Und das ist schade, ist es doch ein weit ‚authentischeres Peru‘ als das, was die Werbeindustrie eigens für uns Fremde konstruiert hat!

 

Ein anderes Erlebnis – ganz aktuell in der Colca-Region – bestätigt unsere Erfahrungen. Während wir selbst uns für gut 10 Tage abseits der Haupttouristenströme im Colca-Areal aufgehalten haben, waren andere Reisende hier meist auf dem schnellen Sprung. Es gibt hier eine ganze Reihe von wirklich interessanten kleinen Ortschaften in fantastischer Lage am grünem Flusstal, vollständig terrassiert und von wunderschönen Bergen, archäologischen Stätten, Thermalbädern etc. umgeben. Ehrlich gesagt wussten wir nicht, wo wir anfangen sollten und hätten durchaus länger bleiben können, Potentiale waren hier genug vorhanden, um eine noch längere Zeit auf Entdeckungstour zu gehen. Wir sind abseits der klassischen Route gewandert, haben das Dorfleben, die kulturellen Sprenkel genossen und haben dem Müßiggang gefrönt. Erst anschließend sind wir weitergezogen, waren schockiert von den Massen am Cruz del Condor und überrascht, dass im wichtigsten Ort für die klassische Colca-Wanderung wiederum kaum ein Tourist zu wohnen schien. Wo waren die alle?

 

Die meisten Touristen nehmen sich höchstens drei/vier Tage für den Trip in den Colca-Canon Zeit (übrigens inkl. Arequipa, für die wir weitere gut 10 Tage vorsehen). Die Colca-Region, ihre Menschen und deren Kultur, sehen die meisten Reisenden überhaupt nicht. Das läuft dann in der Regel so ab: Die meisten kommen nachts oder am frühen Morgen in Arequipa an – wer das Geld hat fliegt direkt hierher, die anderen nehmen den Nachtbus (17 Stunden). Völlig übermüdet klappern sie anschließend die Reiseagenturen ab, um am nächsten Tag – wir haben auch erlebt: noch am selben Tag – in der Nacht (meist 3:30 Uhr) im Rahmen eines ‚Rundumpakets‘ in den Colca-Canon aufzubrechen – und das möglichst kurz (1 oder 2 entsprechend harte Trekkingtage), weil … Zeit ist knapp. Es geht Ihnen also offenbar gar nicht wirklich um das ‚in der Natur‘ sein, sondern um das ‚gemacht haben‘… Auf diesem Wege werden die Touristen von den ‚Agenten der Tourismusindustrie‘ in eigens vorgesehenen und isolierten Transportsystemen mit (ausschließlich) ihresgleichen (anderen Touristen) direkt in den touristischen Wanderweg entlassen ohne vor Ort überhaupt einem „normalen“ peruanischen Menschen der Colca-Region leibhaftig begegnet zu sein, noch sich ein eigenes Bild von der Region gemacht zu haben. Der Rücktransport nach Arequipa erfolgt analog. Natürlich haben die meisten dann schon das Busticket für den nächsten Tag in der Tasche, wenn es weiter nach Cusco geht… Das Spiel wiederholt sich hier genauso mit Machu Picchu usw. Auf diese Weise schafft man es – gibt es dafür irgendwo Preise? – alle vermeintlichen Hauptsehenswürdigkeiten des Gringotrails in zwei Wochen ‚besucht‘ zu haben… Aber welchen Wert hat das?

Je länger wir selbst hier reisen, je mehr wir bewusst einem anderen Reisestil nachgehen, desto verblüffter sind wir angesichts dieser massentouristischen Verfahrensweisen. Das wird uns hier extrem klar, dass die meisten Menschen – vermutlich gänzlich unbewusst – gar nicht wirklich reisen. Man sieht die hot spots, kann die ‚must see‘-Orte von der Liste streichen, hat sich aber während der gesamten Reise lang nur mit touristischen Profis (Guides, Fahrer, Hostelbesitzer) und seinesgleichen (anderen Touristen) über die immer gleichen Sehenswürdigkeiten ausgetauscht. Sicher ist das bereits ein Wert an sich, aber was hat man denn tatsächlich von dem fremden Land „mitgenommen“, was hat man für sich „gewonnen“? Kann man auf diese Weise ein Land und seine Menschen tatsächlich kennenlernen oder erschließen? Welchen Wert hat es für die eigene Seele?

 

Ich sehe schon die Kritik an unserer Position: „Ihr habt gut reden, Ihr reist ja auch deutlich länger…!“ Darauf möchte ich antworten: „Stimmt. Aber selbst, wenn ich nur zwei Wochen Zeit hätte und ich würde in der kurzen Zeit auf die Idee kommen, nach Peru zu reisen (würde ich heute vermutlich gar nicht erst machen) dann würde ich mich – mit meinem heutigen Wissen – in diesen zwei Wochen immer noch bezüglich der Anzahl an Zielen beschränken und die zwei Wochen gleichwohl langsam und intensiv ‚reisen‘. Ich würde gleichwohl versuchen einen offeneren und hoffentlich tieferen Zugang zu bekommen“. Tatsächlich hatte ich als Student manchmal drei Wochen für Thailand und bin ein paar Jahre immer wieder auf dieselben Inseln gereist – hier bin ich dafür richtig eingetaucht, kannte die Menschen, die Orte und fühlte mich bald als würde ich nach Hause kommen… „Schon wieder nach Thailand?“ wurde ich oft gefragt. Richtig! Ich war da noch nicht fertig… Dafür habe ich tatsächlich trotz siebenfachen Besuchs im Land nur einen Bruchteil von Thailand gesehen. Und das ist auch gut so, denn das was ich bereist habe, das ist ein Teil meiner Selbst geworden.

 

Zeit und Müßiggang sind ein Luxus - einfach mal die Seele auf Reise schicken... Peru (Foto Jörg Schwarz)
Zeit und Müßiggang sind ein Luxus - einfach mal die Seele auf Reise schicken... Peru (Foto Jörg Schwarz)

 

Vielleicht könnt Ihr Eure Kritik an der klassischen Urlaubsreise noch etwas konkretisieren?

 

Die Beispiele, die wir gerade gegeben haben, führen nach unserer Wahrnehmung und unseren eigenen früheren Erfahrungen dazu, dass man in der Regel in der konstruierten Struktur des Hochglanzkatalogs und seiner Bilder stecken bleibt. Natürlich merken das die meisten Menschen gar nicht, aber sie merken ja auch nicht, was sie verpassen... Hier hat sich eine Branche bemüht uns mit idealisierten Bildern eine Vorstellung von bspw. Peru (Peru = Machu Picchu) zu geben, die wir aufgesogen und uns zu eigen gemacht haben und die wir auf einer Urlaubsreise dieses Typs immer nur wieder bestätigen. Man wird dann weder Überraschungsmomente erleben, noch innere Erfahrungen in Peru machen, weder wird man ergriffen sein von Peru, noch etwas über das hinaus mitnehmen, was man nicht schon vorab an Bildern und Erwartungen im Kopf hatte. Vielmehr verbleibt man ja während seines Urlaubstrips meist in dieser künstlichen Welt des Konstrukts, auf den künstlichen Inseln des Tourismus, wo man keine Peruaner, sondern „peruanische Verkäufer“, „peruanische Busfahrer“ oder „peruanische Hostelbesitzer“ trifft, wo man selbst im Gegenzug nur als „Tourist“ codiert wird, der letztlich zum Kauf von Souvenirs zu dienen hat... In dieser Sphäre begegnen sich nicht Menschen und faszinieren einander, sondern es treffen Rollenmuster aufeinander, die gegenseitige Erwartungen austauschen. Eine dual chiffrierte Tourismus-Welt, der man sicher nicht gänzlich entkommen kann, der man sich nach unserer Auffassung beim echten Reisen aber gelegentlich entziehen sollte… Und das muss man aktiv bewirken und dabei kann die Idee des slow travel helfen!

 

Dafür braucht es aber Zeit und ein Bewusstsein für ein anderes Reisen. Seit wann folgt Ihr der Idee des slow travel und was versteht Ihr darunter? Vielleicht könnt Ihr von Eurer Spur, die Ihr da verfolgt, noch ein wenig berichten…

 

Auf keinen Fall ist das unsere eigene Erfindung! Der Begriff des slow travel und Vieles, was zu diesem Begriff gehört, sind längst aufgeschrieben, es gibt zahlreiche Bücher zu dem Thema und auch wenn wir sie nicht ausgiebig gelesen und studiert haben, scheinen die Autoren das ähnlich zu begreifen, wie wir es seit vielen Jahren wahrnehmen.

 

Das tatsächliche Reisen – ein substanzielles Reisen – braucht nach unserer Erfahrung und unserer vollen Überzeugung zwingend Zeit und Müßiggang und bedarf eines bewussten selbstreflexiven Prozesses, der wiederum von einem Habitus getragen ist, den Neugierde, Offenheit und Mut auszeichnen. Das hört sich nach viel an, ist aber letztlich jedem Kleinkind inhärent. Die meisten haben es nur verlernt.

 

Zeit ist ein wichtiger Faktor, der sich mit zunehmender Reisedauer – gilt aber auch weit über das Reisen hinaus – für uns als immer elementarer herausstellt. Wir nehmen uns von Beginn dieser aktuellen Reise an – aber auch schon auf vielen früheren und kürzeren Reisen - sehr viel davon, ohne dass wir dabei darauf verzichten uns auch Sehenswürdigkeiten und massentouristische hot spots anzuschauen. Es geht vor allem darum, sich jenseits des ‚must see‘ zeitlichen Freiraum für Müßiggang zu verschaffen. Dazu reicht übrigens auch mal ein Wochenende aus, man darf sich dann halt nicht so viel vornehmen, wie jemand, der drei Wochen Zeit hat... Aber das ist selbstverständlich leichter gesagt als getan.

Für uns steht mittlerweile fest, dass es genau dieser zeitliche Freiraum des langsamen Reisens ist, in dem sich das Reisen, in dem sich der Geist des Reisenden, auf der Reise auch tatsächlich entfalten kann, der den Unterschied ausmacht.

 

Wir haben in den zurückliegenden Monaten der freien Zeit und dem Müßiggang immer mehr Raum gegeben – und das hat unserem Zugang zu Peru und Bolivien und vor allem unserer Seele extrem gutgetan. Vermutlich ist das so, weil der Müßiggang uns einen anderen, überraschenderen und erfrischenderen Zugang zu Peru/Bolivien verschafft hat, der jenseits der Reiseführerlogiken und ihren konstruierten Bildern liegt und erstmal keinen Vorauserwartungen gerecht werden muss. Wir konnten uns quasi selbst ‚ein Bild machen‘, weil der Müßiggang bewirkt, dass unser Geist sich in der unbestimmten, der planlosen Zeit ohne Erwartungsfixierung entfaltet – in einer Zeit, in der sich unser Geist sich selbst überlassen bleibt und im wahrsten Sinne des Wortes selbst „auf Reisen gehen“, streunen, plan- und ziellos umherschweifen kann. Und das ist unsere Erfahrung: Er tut es auch, wenn man denn ein suchender, wenn man denn in Bezug auf andere Länder und Kulturen wirklich ein neugieriger Mensch ist. Aber warum sollte man sonst auf Reisen in ‚die Fremde‘ gehen…?

 

Müßiggang schließt den Besuch von Sehenswürdigkeiten oder eine angemessene Zeitplanung übrigens nicht aus. Aber zwischen diesen geplanten Events oder auch während seiner Pausen tun uns zeitliche Räume, in denen wir die Seele baumeln oder auf Entdeckungstour gehen und uns treiben lassen können, einfach gut. Wir brauchen diese Zeit, in der wir unseren Impulsen und der Neugierde auf unser Gastland – losgelöst von allen bestehenden Konstrukten der Reisebranche – folgen können. Im Müßiggang passiert es uns immer wieder: Wir werden quasi nebenbei inspiriert und machen tolle, bereichernde Erfahrungen, weil wir überrascht werden…

 

Ein Beispiel: Als wir in Huancavelica mit dem Besuch der Inka-Ruinen von Uchkus Incanan bereits fertig waren und uns in aller gebotenen Langsamkeit, zu Fuß, mehr schlendernd als marschierend, schon beinahe dem Müßiggang hingebend, auf den Weg zurück durch ein Dorf gemacht haben, da wurde es erst richtig spannend. Menschen wunderten sich über unsere interessierten Blicke und waren überrascht, dass wir uns für ihr Leben interessierten, eine alte Schäferin sprach uns an und schämte sich fast ein wenig darüber, dass ihr die kleinen Lämmer immer wieder entwischten, wir begegneten zufällig einem Bauern und seiner Nichte auf einem Feld. Unsere Neugierde wurde angestachelt, weil wir nicht verstanden, was der Mann dort mit seinen Kartoffeln tat. Natürlich sah er unsere verwunderten Blicke und unser Guide nahm die Gelegenheit wahr, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Bis heute war die anschließende ‚Begegnung‘ – und das war eine zwischenmenschliche Begegnung jenseits aller Katalogbilder von Peru, die unsere Seelen nachhaltig berührt hat – einer der schönsten Momente in Peru. Der alte Mann hat uns – mit Exupérie gesprochen – die Farbe der Kartoffel nahegebracht. Wir haben die Bedeutung der Kartoffel für Peru und seine Andenbauern, wir haben die Expertise dieser Menschen in Sachen Landwirtschaft und wir haben die wundervolle Bescheidenheit und Demut dieser Campesinos durch diese Begegnung erfahren und erlebt. Ich schaue heute anders auf dieses Gemüse und habe eine ganz andere Wertschätzung. Wir verdanken sie unserem – langsamen – Tempo und Fußmarsch und der damit erst geschaffenen Möglichkeit stehen zu bleiben und spontan Freundschaft zu schließen. Im Rahmen eines ‚Rundumsorglospakets‘ hätte es wohl nicht stattgefunden, wenn ich bedenke, wie oft ich vorher im Minibus an Kartoffelfeldern und ihren Bauer vorbeigerauscht bin, ohne Zugang zu ihnen und der Kartoffel…

 

Schlicht Kartoffeln! Aber wir haben in Peru die 'Farbe der Kartoffel für uns gewonnen', bei Uchkus Incañan, Peru (Foto Jörg Schwarz)
Schlicht Kartoffeln! Aber wir haben in Peru die 'Farbe der Kartoffel für uns gewonnen', bei Uchkus Incañan, Peru (Foto Jörg Schwarz)

 

Ihr sagt es selbst: Auch der Mut gehört zum slow travel, diese Art zu Reisen setzt also einen gewissen Habitus voraus?

 

Das stimmt. Tragische Gestalten mit xenophobischem und ängstlichem Gemüt gegenüber allem Unbekannten sollten aus unserer Sicht gleich zuhause bleiben... Was könnte sie in fremden Ländern berühren, wenn ihnen die Andersartigkeit der Menschen, wenn ihnen das Fremde Angst bereitet und nicht Vergnügen?

 

Der Reisende müsste sich nach unserer Erkenntnis – mit Platon gesprochen – bewusst in der eigenen Unwissenheit bspw. über Peru suhlen, wie eine Sau im Schlamm… Neugierig zu sein, bedeutet ja auch, eigene Annahmen, Vorurteile, Klischees und Bilder von Peru mit Vorliebe zu hinterfragen und ggf. zu verwerfen. „Ist Peru tatsächlich Machu Picchu oder eben doch ganz anders?“ Man müsste sich einlassen können darauf, ein völlig anderes Peru zu suchen und zu entdecken, als es der Reiseführer und die Werbeindustrie uns zuvor weisgemacht haben… Sich überraschen lassen zu wollen, ist eine Tugend des slow travel. Nur Menschen mit einem Mut zum Eingeständnis des eigenen Irrtums in Bezug auf die Bilder im eigenen Kopf werden das volle Reisevergnügen empfinden… Man braucht Mut sich offen auf Unbekanntes einzulassen. Und ich sage es nochmal: Wozu in fremde Länder reisen, wenn man nicht genau nach diesem Fremden sucht? Genau dafür reist man ja in ‚die Fremde‘, um dieses ‚Andere‘ zu erfahren, um es zu erkennen, um es sich ggf. zu eigen zu machen oder zu verwerfen. Nur dieses ‚Neue‘ und ‚Exotische‘, nur das ‚Überraschende‘ macht aus mir selbst womöglich einen anderen Menschen… Dafür sollte man reisen, denn das Reisen findet nicht in erster Linie in den bereisten Orten, sondern in uns selber statt. Wenn es uns nicht in der Seele berührt, wenn es uns nicht im Innersten trifft und verändert, dann hatte die Reise vielleicht keinen Wert. Einen solchen Habitus sollte man mitbringen, wenn man slow travel denn ernst nehmen möchte.

 

Ich erinnere mich an mein erstes Thailanderlebnis: Am Flughafen warteten wir auf einen Weitertransport im klimatisierten Terminal. Es gab da eine Schiebetür aus der ich mitten in die Nacht Bangkoks hinein kurz herausgetreten bin. Ich lief dabei völlig unerwartet gegen eine Wand aus feuchter heißer Luft wie ich sie noch nie zuvor erlebt hatte, eine völlig andere und für mich exotische Welt, in die ich da eingetreten bin. Ich hatte eine Reihe von Bildern zu Thailand im Kopf, aber diese unmittelbare körperliche Erfahrung kam so überraschend und unerwartet, sie hat mir auf einen Schlag ein neues Universum geöffnet… Und genau das wollte ich offenbar – ich war angefixt von dem Fremden, obwohl es sich nicht nur schön angefühlt hat… Aber das war eben Bangkoks Luft!

 

Ein schönes Beispiel. Aber mal ehrlich: Das sind hehre Erwartungen, die Ihr an das Reisen und die Reisenden habt.

 

Jein. Jeder soll so Reisen oder seinen Urlaub verbringen, wie er oder sie das möchte. Wir wollen niemanden persönlich verurteilen, belehren oder kritisieren. Aber wir glauben schon, dass das Reisen nur dann ein echtes Vergnügen und einen persönlichen Mehrwert generiert, wenn bestimmte Erkenntnisse Berücksichtigung finden. Diese Erkenntnisse entsprechen unserer mehr als 20-jährigen Erfahrung auf Reisen und wenn ein Reiseblogger gefragt wird, was er meint, was das Reisen besser macht, dann wird er das nicht vorenthalten… :-)

 

In Phasen des Müßiggangs eröffnen sich uns – von der ganz natürlichen Neugierde angetrieben – oft erst die Chancen, tatsächlich Neues, Unerwartetes oder Überraschendes im Gastland wahrnehmen, erfahren und kennenlernen zu können – jenseits aller Klischees. Nur von dieser Wissbegier getragen und von dem Mut flankiert, den es dafür braucht, den falschen Bildern und oberflächlichen Stereotypen in Bezug auf das Gastland ins Auge zu schauen, denen man selbst aufsitzt, wird man sie erkennen und überwinden können. Und seid gewiss, jeder reist in die Fremde mit Vorurteilen, Klischeevorstellungen und falschen Erwartungen, die wir uns selbst, unser Reiseführer oder andere Produkte der Reiseindustrie uns eingepflanzt haben, noch bevor der Flieger dort überhaupt aufsetzt...

 

Das aus unserer Sicht schönere und bessere Reisen ist ein durch ein Gastland angestoßener innerer Reflexionsprozess und führt uns hinter erhöhte Ideale, hinter die Codes und die fixierten Hochglanzbilder der Tourismusindustrie zurück und ermöglicht an ihnen vorbei einen neuen, intensiven Zugang zu Land und Leuten. Der langsam Reisende schafft sich auf diese Weise im Müßiggang die Voraussetzungen, auf denen er aus den ewiggleichen Bildern und Suggestionen der Reisebranche ausbrechen kann. Er kommt in Bezug auf sein Gastland zu einer offeneren, tieferen Auseinandersetzung und substanziellerer Erfahrung. Ich denke das entspannt auch mehr.

 

Der neugierige Habitus des Reisenden – wie wir ihn als hilfreich, vielleicht notwendig, ausgemacht haben – führt uns dabei nur auf den eigentlichen Zweck des Unterfangens ‚Reise‘ zurück. Neugierde und Mut sind die Tugenden des Reisenden, sie beinhalten immer auch den Hang zum Abenteuer, zum Experiment und zur Weiterbildung. Neugierde und Mut sind in unserem Kontext des Reisens zugleich das, was die (echte) Philosophie in Bezug auf das gute Leben ist: Suche nach (mehr) Glück. Das Reisen im eigentlichen Sinne hat in Anlehnung an ein platonisch-sokratisches Verständnis daher durchaus philosophischen oder therapeutischen Charakter, sofern es uns bestenfalls schlauer macht als zuvor und Schein in Sein verwandelt.

 

Danke für das Gespräch!

 

Spuren | WECHSLER: Manchmal auch nur ein Schatten ihrer selbst... Aber das Reisen sollte Substanz haben! Bolivien (Foto Jörg Schwarz)
Spuren | WECHSLER: Manchmal auch nur ein Schatten ihrer selbst... Aber das Reisen sollte Substanz haben! Bolivien (Foto Jörg Schwarz)

Literatur

 

Kieran, Dan, SLOW TRAVEL. Die Kunst des Reisens, München (4. Aufl.) 2014



 

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