Eine Pilgerreise durch das nördliche Spanien (Camino del Norte)
von Franka Frieß - 08.09.2023
Dieser Reisebericht ist der zweite Teil der Pilgerreise von Franka Frieß. Wollt Ihr den ersten Teil (noch einmal) vorab lesen?
Dann folgt zuerst diesem Link und kommt später hierher zurück!
Unsere zehnte Etappe (Villamartín Grande - Mondoñedo) - Vorbei an alten und verlassenen Dörfern
Uns fällt auf, dass wir, seit wir in Galicien sind und je mehr wir uns unserem Ziel nähern, immer mehr Pilger sehen. Woher kommen nur all diese Leute? Sie kommen aus Oberbayern, Heidelberg, Norddeutschland, Rheinland-Pfalz, Madrid, aus Polen und der Slowakei, aus Schweden, Dänemark, Norwegen, den USA, Kanada, Neuseeland und, und, und. Vielen Menschen auf der ganzen Welt scheint dieser besondere Pfad etwas zu bedeuten ...
Hier in Galicien wird uns nun auch stets der genaue Abstand zu unserem Zielort Santiago de Compostela angezeigt. Wir sind jetzt 152 km vom Ziel entfernt, haben also schon fast die Hälfte hinter uns gebracht! Selbstverständlich teile ich unsere Fortschritte nun auch gern mit Freunden und interessierten Begleitern in Deutschland.
Wir kommen auf unserem Weg kurz vor Lourenza durch ein - geschätzt - zu 90 Prozent verfallenes Dörfchen. Hier und da nur gibt es zwischen verfallenen Gebäuden wenige bewohnte und intakte Häuser. Eine traurige Stimmung verbreitet sich bei uns und diese Leute tun mir irgendwie leid. In einem der Häuser lebt ein altes Ehepaar mit seinem Hund. Sie sitzen dort - dem Eindruck nach - zufrieden vor ihrem Haus und warten, ja warten …
„Worauf warten denn die beiden Alten?“ Das fragt mich meine Freundin über WhatsApp und ich habe natürlich keine Antwort. „Hauptsache, sie sind vergnügt!", denke ich und doch frage ich mich auch: "Bringen die Pilger denn hier gar keinen Wohlstand in die Dörfer? Es gibt doch zahlreiche Touristen in der Gegend und wir bringen schließlich Geld hierher!" Wie dem auch sei: Die Region ist streckenweise ganz schön arm und der Wohlstand scheint an diesem Ort irgendwie vorbeigegangen zu sein. Die Landflucht hier, die wir sehen, erscheint uns verständlich aufgrund der Unwegsamkeit des bergigen Geländes. Die jungen Leute zieht es in die Städte. Die Alten bleiben zurück ...
„Toll aber, dass ihr fast die Hälfte der Strecke geschafft habt. Bald seid ihr in Santiago de Compostela!“ Meine Freundin macht uns über Whatsapp Mut.
Unsere elfte Etappe (Mondoñedo - Abadín) - Verschlossene Kirchenhäuser und eine Etappe zum Fürchten
Wir übernachten in dem hübschen Städtchen Mondoñedo, in dem wir uns ein wenig ärgern, denn die Kathedrale des Örtchens, die wir gerne von innen gesehen hätten, ist geschlossen. Die meisten Kirchen werden hier in Spanien nur zu Gottesdienstzeiten geöffnet, ansonsten bleiben sie uns und den Gläubigen versperrt. Wirklich frustrierend! Aus meiner fränkischen Heimat kenne ich das anders und ich besuche gerne unsere schönen alten Dorfkirchen oder auch die alte Klosterkirche meines Heimatortes. Dabei tanke ich auf. Ich entdecke auch immer wieder in versteckten Winkeln alte Kirchen. Das alles fehlt mir hier sehr. Unsere Pilger-Bekanntschaft, die schon vorgestellte "Pilgerin aus Oberbayern“, kennt dies aus ihrer Heimatstadt übrigens auch anders.
Am nächsten Morgen treffen wir zunächst Teresa aus Katowice, Polen, die - so wie wir - in die Kathedrale hinein will. Auch heute vergeblich! Auch sie ist sehr enttäuscht und es leuchtet uns nicht wirklich ein, warum man hier alles verschließt. Sie erzählt von ihrer Übernachtung im nahegelegenen Seminar. Etwas weiter treffen wir noch auf „unsere Oberbayerin“, die auf uns am Fuß einer steil ansteigenden Straße wartet. Wir plaudern ein wenig. Sie zeigt mir das Foto ihrer Enkelkinder auf dem Desktop ihres Smartphones, bevor sie die anstehende Route auf Google erklärt. Danach zischt sie ab, nicht ohne uns daran zu erinnern, dass die vor uns liegende Etappe sehr lang und außergewöhnlich hart sein soll. Ich seufze. Sie läuft mit ihren beiden Stöcken los und ist schon bald nicht mehr zu sehen. "Was für eine Energie!", denke ich, die uns beide, meinen Mann und mich, in den Schatten stellt. Ich bin sicher, sie hat Santiago de Compostela lange vor uns erreicht. Was für eine tatkräftige und mutige Frau!
Tatsächlich werden wir die zwei netten Frauen aus Bayern und Schlesien nicht mehr wieder treffen. Das liegt ganz sicher an uns, denn wir legen ja immer mal einen Pausentag ein. Sie hingegen gehen mit Vorsprung und voller Tatendrang ihrem Ziel entgegen.
Gewusst haben wir es ja schon vorab: Die heutige Etappe hat es in sich! Der Tag ist tatsächlich so anstrengend, dass ich am Abend nicht zu einer Foto-Collage für meine Familie fähig bin. Wir sind fix und fertig! Diese Etappe ist zusammen mit jener unseres allerersten Tages - vom Flughafen bei Oviedo nach Cudillero - die anstrengendste! Es geht hoch und runter und ist extrem sonnig. Lange Etappen laufen wir ohne Schatten und es gibt keine Sitzmöglichkeiten, nur wenige Baumstümpfe oder Möglichkeiten zum Anlehnen. Sitzen mitten auf dem Weg ist angesagt, man wird ja bescheiden! Und selbstverständlich gibt es heute auf diesem Weg auch keinerlei Einkehrmöglichkeiten. Unsere Bekannte aus Oberbayern hatte uns am Morgen nicht zu viel versprochen ...
Aber da treffen wir auf einen Engel am Wegesrand: Ein sehr betagter, uns und den Menschen wohlgesonnener Mann, der uns reinstes Gebirgswasser anbietet.
Der alte Bauer führt uns zu einer versteckten Wasserstelle seines Hofes. Wir trinken vom kühlen Gebirgswasser, das aus einem dünnen Rohr heraus läuft und heute wahrlich köstlicher als jeder Wein schmeckt! Wir plaudern ein wenig und so gut wir eben können, denn der alte Mann spricht in einem starken Dialekt und sein Mund ist etwas eingefallen, da ihm ganz offensichtlich einige Zähne fehlen. Beim Abschied bietet er uns nicht ohne Stolz an, dass wir, wenn wir wiederkommen sollten, seine Wasserstelle jederzeit nutzen dürfen, auch ohne zu fragen. Wie nett! Es sind diese seltenen Lichtblicke auf unserem strapaziösen Weg nach Abadín, die uns den beschwerlichen Weg gleichwohl bestehen lassen.
Völlig erschöpft kommen wir abends in einer - Gott sei Dank - netten Herberge in Abadín unter. Hilft aber erstmal alles nichts: Es ist mal wieder soweit, ich stelle die gesamte Pilgerei in Frage und "verwünsche" mich und meine Idee von dieser Reise ...
Am nächsten Morgen treffen wir im Frühstücksraum auf Menschen aus aller Herren Länder. Joe und seine Frau aus Neuseeland sind unter ihnen, die bereits ihren zweiten Camino in Folge auf dem Fahrrad absolvieren. Das nehme ich ihnen sofort ab, denn sie wirken sehr drahtig und fast ein wenig ausgemergelt.
Da ich als allererste sehr früh an diesem Morgen den Frühstücksraum betreten und die Kaffeemaschine ausgetüftelt habe, zeige ich den anderen, wie sie funktioniert. Was für ein positives Erlebnis! Joe geht herum und bietet freundlich, mit einem gewissen Nachdruck, Magdalenas aus einer großen Dose an. Jede und jeder greift beherzt zu. Magdalenas - man möchte sie fast das spanische „Nationalgebäck“ nennen - fehlen übrigens bei keinem spanischen
Frühstück … Wir mögen das Gebäck eigentlich, doch diese Muffins sind ziemlich trocken und schmecken uns einfach nicht. Wir müssen unsere Magdalenas mit Kaffee herunterspülen und lehnen noch eine zweite - wie die anderen Pilger auch - dankend ab. Im Nachhinein spreche ich mit meinem Mann über diese Frühstücksszene. Und tatsächlich: Wir haben beide denselben Verdacht! Joe wollte die Dinger bestimmt einfach loswerden … :-) That`s it.
Unsere zwölfte Etappe (Abadín - Villalba) - Endlich eine Badewanne!
Allen Klagen des gestrigen Abends zum Trotz - wir machen uns auch heute erneut auf die Strecke, die uns ungefähr 20 km lang durch die Landschaft führt. Während unserer heutigen Tagestour treffen wir auf ein verwittertes Wegekreuz und verweilen ein wenig. Zu sehen ist ein langsam verbleichendes Kinderfoto mit der Aufschrift "Santi" und zahlreiche kleine Steinchen rund herum - vermutlich zum Gedenken. Das Kind auf dem Foto, Santi, scheint gestorben zu sein, an diesem Ort wird an es erinnert. Ich lege einen Stein dazu und gedenke all der Kinder auf der Flucht, im Krieg, missbraucht, abgetrieben, aussortiert, ungeliebt. Ich gedenke auch der Mütter, die weltweit in Trauer um ihre verlorenen Kinder sind. Was können WIR tun, um das Elend zu verringern?
Am Abend nächtigen wir in einem eher mittelmäßigen Hotel in Villalba, wo ich aber immerhin eine Sitzwanne zur Verfügung habe und ein ausgedehntes Bad nehmen kann - wie herrlich! Unterdessen besorgt mein treuer Gefährte Essen im nahegelegenen Supermarkt - danke!
Unsere dreizehnte Etappe (Villalba - Baamonde) - Eine Pause ist nötig ...
Auf unserer weiteren Camino-Etappe werden die Schmerzen meines Pilgergefährten leider unerträglich. Er humpelt und geht extrem langsam, macht viele Pausen. Die Fußsohlen sehen schlimm aus. Die Blasen haben es wirklich in sich und wir bekommen sie inzwischen nicht mehr unter Kontrolle. Sie gehen ineinander über und werden zu einer einzigen Riesenblase an jedem Fuß. Mein Gefährte tut mir von Herzen leid! Am Nachmittag bemühe ich mich, die Fußsohlen mit Desinfektionsspray und Wundsalbe zu behandeln. Der Versuch, sie aufzustechen, bringt nichts. Ich lege Bandagen an.
Wir sitzen jetzt fest in unserem Apartment in Baamonde und buchen es für eine weitere Nacht, in der Hoffnung, uns zu regenerieren und die riesigen Blasen abklingen zu lassen. So wie wir, sitzt draußen vor der Tür auch diese Katze (s. u.) fest. Sie verweilt stoisch in der fotografierten Position auf einem Mäuerchen gegenüber unserem Apartment. Es sind bei ihr nun freilich nicht die Füße, aber ihr Auge ist krank, armes Tier!
Das `Dorf´Baamonde ist auf den ersten Blick nicht viel mehr als ein Verkehrskreisel mit touristischen Angeboten. Wir sehen eine Apotheke und ein Café, zwei kleine Supermärkte, wo du alles Lebensnotwendige bekommst. Es existieren darüber hinaus ein interessanter Ramschladen, ein kleiner Bahnhof und vor allem etliche Unterkünfte. Baamonde scheint ein Verkehrsknotenpunkt für Pilger zu sein, denn hier stehen eindeutig ihre Bedürfnisse im Mittelpunkt.
Wir beobachten eine große Gruppe junger Leute, die Amerikanisch, Australisch oder Neuseeländisch sprechen, ganz genau kann ich es nicht einordnen. Im Café - unserem Apartment genau gegenüber - ruhen sie sich aus, legen die Füße hoch und scheinen einen Kaffee nach dem anderen zu trinken. Der eine kommt, der andere geht, man begrüßt sich. Einer der jungen Leute fällt mir besonders auf: Ein rundlicher junger Mann - Mitte zwanzig vielleicht. Ganz offensichtlich ein Spaßvogel, der die anderen aufgrund seiner leutseligen Art um sich versammelt. Er ist auffällig mit einem braunen, wollenen Umhang bekleidet, der mir sogleich als "Pelerine" in den Sinn kommt ... Ich wundere mich über mich selbst und warum mir dieser Begriff jetzt durch den Kopf schießt und sehe sofort mal unter diesem Stichwort im Duden nach. Demnach handelt es sich bei einer "Pelerine" - wie ich lese - tatsächlich um einen Schulterumhang, der einem Cape ähnlich ist. Und siehe da: Das Wort stammt vom französischen „pèlerine“ ab, das so viel bedeutet wie "Pilgerin". Aha, denke ich, das ist ja interessant ... Ich sehe, dass der "Spaßvogel" einen großen Rosenkranz am Gürtel hängen hat. Vielleicht ist er ein Mönch oder er will mal einer werden?
Apropos auffällig gekleidet - wer ist das unter uns Pilgern eigentlich nicht? Wir fallen zunächst durch unser Schuhwerk auf. Viele laufen nach dem Pilgern am Nachmittag in einfachen Flipflops mit oder ohne Socken herum. Die Kopfbedeckungen der Pilger sind manchmal auch sehr lustig! Wir sehen zum Beispiel eine Gruppe koreanischer Pilgerinnen, die ihr Gesicht mit einer Art Stoffmütze samt Scheuklappen rechts und links vor der Sonne schützen. Die sehen schon ein wenig skurril aus, und ich muss mir hier und da ein Lachen verkneifen, vor allem, weil sie wie ernste, tiefreligiöse Nonnen ihren Pilgerweg beschreiten, fast so als wär`s im Mittelalter. Für sie scheint diese Kopfbedeckung jedoch völlig normal zu sein. Auch die Regencapes machen aus uns Pilgern lustige Gestalten - in der Ferne sehen wir wie wandelnde Vogelscheuchen aus. Im Foto oben siehst du mich in meinem eigenen „Regenkostüm“. Was mögen wohl die Einheimischen über uns denken?
Aber: "Eitelkeit ziemt sich nicht für den Wanderer!" Wir alle sind doch recht genügsam und beschweren uns nicht über unser Outfit. Wie auch? Jeder weiß doch, dass praktische und funktionale Kleidung nicht unbedingt dem Auge des Betrachters schmeichelt! Unterwegs macht Not bekanntlich erfinderisch und ich könnte hier noch manch lustiges Beispiel von unserer Reise beisteuern ...
Zurück zu unserem kleinen Baamonde, dem wir uns während unseres längeren Verweilens hier ein wenig intensiver widmen können: So fällt uns auf, dass während der ganzen Nacht die Apotheke vis-à-vis in einem grellen Neongrün angestrahlt ist. Ich denke so bei mir: Die Stromrechnung des Apothekers möchte ICH nicht bekommen!
Am Montagmorgen - endlich ist das Wochenende vorbei und die Geschäfte wieder offen - beobachten wir, wie sich kurz vor halb 10 Uhr eine ansehnliche Menschentraube vor der Apotheke versammelt. Wir müssen schmunzeln und grinsen aus dem Fenster unseres Apartments hinaus, als wir das sehen. Alle da draußen decken sich mit Heftpflastern, Bandagen, Desinfektionssprays usw. ein. Sie alle teilen das Leid meines Mannes, der nun auch vorsichtig und langsam schlurfend das Haus verlässt und sich zu den Wartenden gesellt, um sich „pilgerfest“ zu machen. Apotheker am Camino müsste man sein - zumindest scheint es ein einträgliches Geschäft zu sein!
Mit speziellen Geleinlagen, die den Druck auf die Blasen verringern sollen, kommt mein Mann zurück, um einige Euro erleichtert. Er hat in einem kleinen Ramschladen zudem billige Badesandalen mit dicken, weichen Schaumstoffsohlen erworben. Juhu, jetzt dürfen wir einen kleinen Spaziergang ins Dorf wohl wagen. Um die Ecke finden wir eine wunderschöne alte Kirche, die leider abermals geschlossen ist, wie so viele Kirchen hier ... Ich habe das ja schon erwähnt.
Immerhin: Morgen dann können wir nach unserer zweitägigen Pause weiterpilgern ...
Unsere vierzehnte Etappe (Baamonde - Casanova) - Ein Ziel voller Charmeure ... ?
Die Gegend zwischen Baamonde und Casanova wirkt ärmlich und wenig bewohnt, viele alte Häuser sind verfallen. Ab und an taucht ein villenähnliches Haus im Mallorca-Stil auf, mit englischem Rasen umgeben, liebevoll von einem Mähroboter gepflegt … und oft von einem, zwei, drei Hunden bewacht, die grollend ihr Grundstück verteidigen. Galicien zeigt sich nicht mehr ganz so picobello, nicht ganz so gut in Schuss wie Asturien ... Die Gegend hier hebt unsere Stimmung daher nicht besonders an, zumal die langsam verfallenen Häuser auf die Stimmung drücken. "Können diese Gebäude nicht wieder hergerichtet werden, so wie unser letztes Apartment in Baamonde?", frage ich mich ...
In einem kleinen Weiler treffen wir auf die jungen Pilger, die wir von Baamonde her kennen und auf zwei deutsche Frauen. Gemeinsam stehen wir vor einer großen Infotafel und überlegen, ob wir nach rechts oder links gehen sollen. Links: Belebte Variante. Rechts: Einsamkeit. Unser kleiner Reiseführer sagt uns, wir sollten uns genau überlegen, welche der beiden Routen wir uns zutrauen. Er rät dringend, genügend Wasser und Proviant mitzunehmen, falls man sich für die einsame Variante entscheidet. Da dieser Weg zugleich als der kürzere angezeigt wird und wir unsere Füße schonen wollen, nehmen wir die Abbiegung nach rechts. Wir sparen so einige Kilometer, während die anderen Pilger alle die belebtere Route mit Bars und Einkaufsmöglichkeiten gehen.
So kommen wir beide in der zweiten Tageshälfte durch extrem einsame, unbewohnte Heidelandschaft. Wir treffen auf dem Weg durch die Steppe lediglich Erika - Erika das Heidekraut! Keine einzige Menschenseele sehen wir, wir hören nur auf den letzten Kilometern Gekläff, denn hier muss es eine Art Hundeschule geben mit Terrain zum Üben für die Tiere. Das Gebell beruhigt, denn wo Haustiere sind, sind auch Menschen. Manchmal wähnen wir uns in Schweden, wohin wir oft gereist sind, wären da nicht immer wieder die Eukalyptusbäume - im Wechsel mit dem Heidekraut.
Wir werden heute in einem winzigen Weiler namens Casanova übernachten. Diesen Ortsnamen gibt es in Spanien recht häufig. Er heißt übersetzt 'neues Haus' oder 'Neuhaus'. Ich bin gespannt, ob wir in dem kleinen Weiler einem männlichen Casanova begegnen und wie der wohl aussehen mag ... Wir witzeln herum, haben ja genug Zeit dafür, und lenken uns ab von dem Gedanken: "Was passiert wohl , wenn einer von uns stürzt oder sich den Fuß verstaucht?"
Diese nachmittäglichen Stunden unseres Pilgerweges zwischen Baamonde und Casanova sind voller Tristesse. Wir reden wenig und hängen unseren Gedanken nach, und ich verfange mich irgendwann in traurigen Erinnerungen. Auch das geschieht in den mühsamen, gedankenverlorenen Stunden einer Pilgerreise ...
Nach vier monotonen Stunden treffen wir an der gebuchten Unterkunft ein und begegnen unserem persönlichen Empfangscasanova, einem freundlichen jungen Spanier, um die zwanzig, in verbeulter Jogginghose und T-Shirt ... Die Casanovas von heute sind auch nicht mehr das, was sie wohl früher mal waren ... Er führt uns zu unserem Zimmer.
Übrigens: Der echte Giacomo Casanova lebte im 18. Jahrhundert auch gar nicht in Spanien, sondern in Italien. Er war Schriftsteller und Abenteurer, der sich die Gunst vieler Frauen erwarb. Der Duden definiert die später sprichwörtlich gewordene Bezeichnung „Casanova“ als eine Person, die "es versteht, auf verführerische Weise die Zuneigung der Frauen zu gewinnen“. Bewegt man sich hier in Casanova, so hat man das immer irgendwie im Kopf ...
Unsere fünfzehnte Etappe (Casanova - Sobrado dos Monxes) - Ungeplante Überraschung im wunderschönen Städchen
Am nächsten Tag geht es weiter in Richtung Sobrado dos Monxes. Gleich am Ortseingang stoßen wir auf eine wunderschöne Tafel, die an der Herberge „Vom Onkel Anton“ angebracht ist (siehe unten links). Darunter ein kleiner „Brunnen der Sehnsucht“. "Find´ ich toll!", denke ich bei mir, der gute Onkel hat sich das was kosten lassen! Die Datumsangabe "25. Julio M.M.X.IX." - also 25. Juli 2019 - bezieht sich auf den Gedenktag von Sankt Jakobus. Auch ich habe einen Onkel Anton, den ich allerdings nie kennenlernen durfte, weil er im 2. Weltkrieg in den Weiten Russlands gefallen ist ... Heute denke ich mal wieder an ihn ...
Leider bekommen wir im uralten Zisterzienserkloster des Ortes, welches bereits im 10. Jahrhundert von den Benediktinern hier gegründet wurde, keine Unterkunft, obwohl wir das Kloster zuvor angeschrieben und im Vorfeld auf ihren Anrufbeantworter gesprochen hatten. Das ist wirklich ein Jammer! Wir haben uns so darauf gefreut und sind sehr überrascht, denn der Internetauftritt verspricht etwas ganz anderes: "Unterkunft, Verpflegung, Rast für Pilger" heißt es! Wir monieren das an der Rezeption, teilen unsere Ernüchterung mit, aber die freundlichen Freiwilligen, die hier im Klosterladen arbeiten und sich sehr um unser Anliegen bemühen, können für die Misere ja auch nichts. Eins aber steht fest: Wir sind etwas enttäuscht von der hiesigen „klösterlichen Gastfreundschaft“.
So nächtigen wir - außerplanmäßig - in einem sehr netten kleinen Hotel direkt am Hauptplatz vor dem Kloster. Die hilfsbereite Empfangsdame hier zeigt uns freundlicherweise alles im Frühstücksraum und erklärt mir - sehr zum Dank! - genau, wie der Kaffeeautomat funktioniert. So präpariert, bin ich beim Frühstück am nächsten Tag - alle anderen Gäste stehen davor wie der Ochs vorm Berg - voll im Bilde und zeige ihnen selbstbewusst, wie die Kaffeemaschine funktioniert. Glück kann so einfach sein!
Das alte Kloster und der kleine Ort Sobrado dos Monxes entpuppen sich als ein Traum. Wir besuchen die Vesper, das Nachmittagsgebet, an beiden Tagen, die wir an diesem magischen Ort verweilen dürfen. Der Gesang der Mönche, den wir hier zu hören bekommen, geht zu Herzen. Was für eine Sehnsucht doch darin liegt ... ! Wunderschön! In der Vesper sehen wir unter den mitfeiernden Gästen auch den lustigen Bruder aus Baamonde wieder, den noch immer sein großer Rosenkranz schmückt.
Unsere sechzehnte Etappe (Sobrado dos Monxes - Arzúa) - "Wir sind doch nicht in Rom, oder?"
Am kommenden Morgen verlassen wir Sobrados dos Monxes sehr früh. Wir wollen am Abend bei Arzúa auf den aus Frankreich kommenden (Haupt)-Weg des Camino - den Camino Francés - stoßen und sind schon neugierig, aber auch etwas skeptisch, wie das wohl werden wird: Mit Sicherheit begegnen wir dort viel mehr Pilgern und Pilgerinnen, auch viel mehr Wandersleuten als bisher. Gott sei Dank sind es nur zwei Tagesetappen auf diesem bevölkerten Abschnitt bis Santiago de Compostela.
Wir stoßen auf eine kleine Kapelle (siehe unten), die am Wegesrand steht und von einer Italienerin - aus Rom - betreut wird. Die Begegnung ist kurios: Sie spricht vom ersten bis zum letzten Wort mit uns konsequent Italienisch, kein Spanisch. Die lebhafte Frau winkt bereits von weitem. Man kann sie nicht übersehen und überhören, denn sie ruft laut etwas, was sich für uns nach „Stempel“ anhört und schwenkt dabei einen Stempel hin und her. Sie weiß, dass jeder Pilger erpicht darauf ist, ihn in seinen Pilgerausweis gestempelt zu bekommen. Dieser Stempel dient als wichtiger abschließender Nachweis bei der Vorlage im Pilgerbüro, um in Santiago de Compostela letztlich die ersehnte Pilgerurkunde zu bekommen. Täglich öffnet sie für die vorbei-kommenden Pilger auch die schöne Kapelle. Sie und ihre Tochter arbeiten hier für drei Wochen als Volontärinnen. Wir sind der temperamentvollen Römerin sehr dankbar und geben einen Obolus für den Erhalt des Kirchleins. Ohne sie wären wir an dieser verschlossenen Schönheit vorbeigezogen!
Auf dem Weg nach Arzúa treffen wir ein paarmal auch auf zwei junge deutsche Pilger und plaudern locker miteinander. Er spricht mit bayerischem Zungenschlag, sie hochdeutsch. Wir erzählen, dass wir aus Franken kommen. Er sagt, er sei aus der Nähe von Ingolstadt, sie dagegen betont, sie sei von „überallher“. Auf Nachfrage lässt sie sich ihre Herkunft partout nicht entlocken. Ich kann mich täuschen, aber ich werde den Verdacht nicht los, dass die junge Frau aus Ostdeutschland stammt. Auch mein Mann, den ich dazu befrage, teilt meine Meinung. Falls das also stimmen sollte, finde ich es sehr schade und bedenklich, wenn eine Person ihre Heimat verschweigen will - aus Angst vor möglichen Vorurteilen. Und ich frage mich, wie steht es um uns Deutsche - Westdeutsche wie Ostdeutsche - wenn es soweit gekommen ist? Wie gehen wir miteinander um, in welche Schubladen stecken wir unsere Landsleute?
In dem quirligen Städtchen Arzúa kommen wir in einer Unterkunft mit dem Namen Pension Luis unter. Ein naher Verwandter heißt so und wir freuen uns sehr, ihm das Foto der Unterkunft zu senden. Später treffen wir noch auf die Bar Luis und das Café Luis. Dieser „Luis“ scheint ein gemachter Mann zu sein, wenn er augenscheinlich so viele Lokalitäten besitzt ...
Auf dem Marktplatz, wo wir uns zum Essen einfinden, herrscht buntes Treiben. Die große Anzahl von Leuten - wir sind das gar nicht mehr gewohnt - stört uns im Moment sogar etwas. Der Zauber, die Magie unserer einsamen Pilgerwege ist wohl vorbei. Schon sehne ich mich zurück nach dem beschaulichen und ruhigen Camino del Norte, auf dem wir in der Regel auch besser gegessen haben: Wir essen auf dem Marktplatz eine Paella, die ihren Namen nicht verdient hat! Wir sind enttäuscht und erinnern uns gern an unsere einzigartige Paella in Villamartín Grande.
Unsere siebzehnte Etappe (Arzúa– O Pedrouzo) - Ganz schön was los unterwegs ...
Der Camino Francés ist, wie bereits gesagt, völlig anders als unser Camino del Norte, die Fotos (unten) zeigen es. Es ist ziemlich was los und man wird ständig von anderen Pilgern überholt, oft muss man ausweichen oder Platz machen. Man hört viele Sprachen, lernt schnell viele Leute kennen. Alles wirkt jetzt eher unverbindlich und oberflächlich, eine Nähe, wie bei früheren Bekanntschaften, stellt sich kaum noch ein ... Ich weiß, dass dies meinen Mann genauso stört, wie mich. Aber wir müssen da durch, wenn wir an unserem Ziel ankommen wollen ...
Ein sportlicher älterer Herr mit Dandy-Hut überholt uns und macht Späßchen nach allen Seiten. Er trägt ein Transistorradio auf den Schultern, aus dem Liebeslieder auf Italienisch schallen. Er spricht vor allem junge Mädchen an. Wir schauen, dass wir nicht in der Nähe dieses Gecken weiterpilgern müssen, wollen wir doch nicht ständig sein Gedudel hören müssen. Hier haben wir ihn also doch noch getroffen, den "echten Casanova“, schmunzele ich ...
Doch so sehr uns der Trubel auf der Strecke missfällt, wir finden auch hier Momente des Innehaltens ... So stoßen wir immer wieder mal auf Erinnerungen an Menschen, die auf diesem Weg verstorben sind. Es sind auffallend viele Einzelpersonen auf dem Camino unterwegs, die nicht nur real, sondern auch sprichwörtlich ein ordentliches "Päckchen" zu tragen haben. Natürlich werden sie sich auf dem Pilgerweg damit beschäftigen - nicht jeder kann es am Ende zufriedenstellend lösen ...
O Pedrouzo ist die vorletzte Station vor Santiago de Compostela. Man merkt es bereits unserem kleinen Hotel an, dass hier alles auf Sparflamme kocht, denn die meisten Pilger nehmen diesen Ort nur als Durchgangsstation wahr. Es macht sich auch eine gewisse Unruhe breit. Die Menschen wollen nur noch weiter, der Tourismus hat sich darauf eingestellt. In unserem Hotel wird kein Frühstück angeboten, eine richtige Rezeption mit angestelltem Personal, das auf die Gäste wartet, gibt es nicht. Wir müssen am Eingang telefonieren, da kommt eine junge Frau aus einem Nachbarhaus, die nur auf Anruf hin tätig wird und uns die Schlüssel für unser Zimmer überreicht.
Hier in O Pedrouzo besuchen wir eine Pilgermesse, eine von ganz wenigen, die unterwegs überhaupt angeboten werden. Die lebhafte Römerin, die wir vor zwei Tagen in der kleinen Kapelle trafen, hat uns einen Infozettel in die Hand gedrückt mit herzlicher Einladung zum Pilgergottesdienst, welcher täglich hier angeboten wird. Die Kirche ist voll. Der Priester fragt, wo all die Pilger herkommen. Die meisten Leute melden sich. Es sind auch einige aus Deutschland dabei. Direkt vor mir in der Bank sitzt eine elegante Frau mittleren Alters mit grauem Kurzhaarschnitt. Sie trägt wunderschöne, dabei sehr einfach gestaltete silberne Ohrringe, die mich vom Gottesdienst ablenken - die sind aber auch zu schön! Was mir noch an dieser Dame auffällt? Sie betet sehr innig und nimmt ganz vertieft an der Heiligen Messe teil. Das gefällt mir richtig gut. Woher diese Pilgerin wohl kommen mag? Ich tippe auf Schweden.
Unsere achtzehnte Etappe (O Pedrouzo – Monte do Gozo) - Der erste Blick auf unser Ziel - Freude kommt auf!
Am nächsten Morgen, sehr früh und noch bei Dunkelheit, strömen unglaublich viele Pilger aus allen möglichen Haustüren und Unterkünften. Ein irrer Anblick ist das! Es ist um diese Stunde noch ziemlich frisch und ich sehe sogar eine Frau mit Handschuhen - dabei haben wir Mai! Alle müden Wanderer sind recht gut eingepackt und sehen urig bis fast makaber aus. Jeder geht für sich alleine, kaum wach, traumverloren und verschlafen. Die meisten, so wie wir, ohne Frühstück wohl, taumeln vor sich hin, dem ersehnten Ziel Santiago de Compostela bereits sehr nah.
Unterwegs entdecke ich die „vornehme Schwedin“ aus dem Pilgergottesdienst in einer Bar am Wegrand sitzen, in die auch wir einkehren. In einer Gruppe von Leuten sitzt sie und unterhält sich. Ich bin jetzt neugierig und gestatte mir, etwas näher an diese Gruppe heranzutreten, um zu horchen, denn ich will wissen, woher diese Pilgerin kommt. Welche Sprache sprechen die Leute? – Sie sprechen das reinste wunderschöne britische Englisch. Aha, knapp danebengelegen! Keine Schwedin, dafür eine Britin!
Wir erreichen nach einem langen Wandertag, der sich hinzieht, als wolle er nicht enden, unsere letzte Herberge Monte do Gozo auf einem Hügel vor den Toren Santiagos de Compostela. Auch diese Etappe haben wir geschafft und so genießen wir von hier aus den herrlichen Blick auf die Stadt und ihr Wahrzeichen, die Kathedrale. Wir sind glücklich jetzt. Monte do Gozo heißt ja auch übersetzt „Berg der Freude“ und bezieht sich auf das Glücksgefühl, das alle erfüllt, wenn sie das Ziel ihrer Pilgerschaft erblicken können. Nicht anders ergeht es uns ...
Vor dem Schlafengehen machen wir noch einen kleinen Nachtspaziergang zur Kapelle des Heiligen Markus (siehe oben rechts), die mitten auf dem höchsten Punkt des Hügels steht. Morgen dann kommt das große und endgültige Finale!
Wir freuen uns sehr und ich teile die spannende Vorfreude mit meinen Lesern zu Hause.
Unsere neunzehnte Etappe (Monte do Gozo – Santiago de Compostela) - Alles fällt ab und Stolz überwiegt die Blessuren des Weges...
Der letzte Pilgertag, der 11. Mai 2023, ist für uns sehr ungewohnt, da wir uns nun im Stadtgetümmel von Santiago de Compostela zurechtfinden müssen, wir aber tragen noch die Ruhe unseres bescheidenen Camino del Norte in uns. Wir sehen und hören Autos hupen, Busse fahren, Menschenmassen sich bewegen. Überall können wir ausgelassene Pilger beobachten, die Fotos und Selfies machen. Viele von ihnen wirken wirklich geschafft. Wir sehen auch das „ostwestdeutsche Paar“, das uns fröhlich zuwinkt. Einige Male fragen wir, wo es zur Kathedrale geht.
Dann ist es soweit: Fix und fertig, aber überglücklich, erreichen wir genau um 17:25 Uhr die Kathedrale und versenden, wind- und wettergebräunt, mit zerzausten Haaren, und nur unseren Kindern vorbehalten, eine persönliche Videobotschaft. Wir fühlen uns wie "Helden" und sind überzeugt, unsere Kinder sind ziemlich zufrieden mit ihren Eltern, die bisher lange von ihren Plänen nur geredet haben. Nun ja, uns ist ja auch Corona in die Quere gekommen …
Im Anschluss besuchen wir die Kathedrale und das Grab des Apostels Jakobus. Wir glauben zu träumen und bewegen uns wie in Trance: Haben wir tatsächlich diese 300 km auf Schusters Rappen zurückgelegt? Unsere Füße, Fußsohlen, Zehen und Knie erzählen es … Morgen um 12 Uhr findet die legendäre Pilgermesse statt, in der ein riesiges Weihrauchfass, der Botafumeiro, durchs Kirchenschiff geschwenkt werden wird. Wir sind sehr gespannt, denn wir haben schon so viel davon gehört. Ich lese im Internet - und lache laut auf -, dieses Weihrauchfass wurde ursprünglich eingesetzt, um den Gestank der Pilger, die früher in der Kathedrale übernachteten, zu verbergen. Es gibt inzwischen mehrere Exemplare des Botafumeiro, gegenwärtig wird in der Regel der älteste aus dem 11. Jahrhundert verwendet.
In der Kathedrale in nächster Nähe zum Apostelgrab zünde ich eine Kerze an und sende dieses Foto in meine Whatsapp-Gruppe. Ich schreibe dazu: „Die oberste Kerze in der Mitte habe ich in euren Anliegen angezündet.“ Ich merke, dass sich einige darüber freuen. Geteiltes Leid ist halbes Leid …
Wir verbringen ein paar Tage in Santiago de Compostela, lassen die vergangenen Wochen ausklingen und besuchen die Pilgermesse und das Grab des Apostels Jakobus insgesamt dreimal - bis wir gesättigt sind. Ich persönlich habe mir das Grab anders vorgestellt, viel schlichter. „Andere Länder, andere Sitten. Andere Zeiten, andere Zeichen.“
Wir können beim wiederholten Besuch des Pilgergottesdienstes weitere Beobachtungen der "menschlichen Spezies" machen. Gott sei Dank wird während der Heiligen Messe immer mal kräftig "Psst" ins Mikro gezischt ... Fotos während des Gottesdienstes sind verboten. Wir finden: Richtig so! Mein Mann und der Großteil der Besucher filmen lediglich das Schwenken des Weihrauchfasses der Männer am Ende (!) des Gottesdienstes. Es braucht acht kräftige Personen, um es an Seilen bis
unter die Decke der Kathedrale zu schwingen. Sehr berührend und feierlich das alles, noch dazu das Gold der Putten und übergroßen Engel sowie die Farben der Fenster, die kräftig leuchten.
Die Weihrauchschwaden, die sich über all das Bunte legen, vermitteln etwas Gespenstisches. Wie muss das in den vergangenen Jahrhunderten auf die erschöpften Pilger gewirkt haben? Sogar für uns moderne Pilgerinnen und Pilger, verwöhnt von Smartphone und Handy, verfehlt der Zauber seine Wirkung nicht. Ich entdecke hier und da verstohlene Tränen. Sind das Tränen der Erschöpfung, der Rührung, der Sehnsucht? Das alte Pilgerlied, das ein Chor im Altarraum singt, kann das Video meines Mannes bruchstückhaft einfangen, leider nicht den Duft des Weihrauchs …
Der Abschied fällt sehr schwer. Es ist eine "güldene Zeit" für uns hier. Das zielstrebige Pilgern über Land, das wir hinter uns haben, und das entspannte Bummeln durch Santiago de Compostela mit seinem Flair aus Großstadtleben und Spiritualität betören uns. Immer wieder begegnen wir interessanten Menschen, die erschöpft und fröhlich ihren Camino hinter sich haben und über die jeweiligen Erfahrungen gerne plaudern. Eine amerikanische Pilgerin, auf die wir am Eingang des Pilgerzentrums treffen, erzählt uns, dass sie an diesem Tag 40 km gelaufen sei. Sie sieht ziemlich geschafft aus. Wir bewundern und loben sie. Sie wird sich gleich den letzten Stempel für ihren Pilgerpass und die Compostela abholen, das offizielle Abschlussdokument der Pilger.
Als wir zwei Tage zuvor im Pilgerzentrum unsere beiden Compostelas entgegennehmen, besuchen wir im Anschluss eine ansprechend gestaltete Ausstellung in der Art einer Diashow, die uns mit ihren Botschaften zum Nachdenken bringt. Zwei davon haben uns sehr berührt und ich möchte sie euch nicht vorenthalten.
Die zwei nachdenkenswerten Botschaften lauten:
„Gesegnet bist du, Pilger, wenn du nach der Wahrheit suchst, wenn du aus dem Camino ein Leben machst und aus deinem Leben einen Weg auf der Suche nach dem, der von sich sagt, er ist der Weg, die Wahrheit und das Leben.“
„Wenn du die Reise als Ganzes siehst, würdest du sie vielleicht nie machen und nie den ersten Schritt wagen, der dich führt von einem Ort, den du immer schon kennst, zu einem Ort, den du nicht kennst.“
Ihr Autor ist Jan Richardson in „Der Kreis der Gnade“.
Das Pilgerzentrum ist täglich umlagert von vielen, vielen Pilgern und Pilgerinnen, die sich den letzten Stempel und das Abschlussdokument hier abholen wollen. Nicht wenige Pilger sind ähnlich berührt wie wir ...
Links siehst du eine Jesus-Statue im Garten des Pilgerzentrums, um die herum Kerzen aufgestellt und Zettel, Steine und Muscheln gelegt sind. Auch ich lege mein persönliches Anliegen dazu. Ein bisschen lächeln muss ich schon, weil man Jesus einen, nein gleich mehrere Rosenkränze umgelegt hat. Die Verehrungsformen sind halt in allen Ländern verschieden.
Wir nehmen am letzten Tag um 16.00 an einer kleinen Gesprächsrunde im Pilgerzentrum teil, veranstaltet von der deutschsprachigen Pilgerseelsorge, und dann um 18.00 am „Spirituellen Rundgang“. Dieses tägliche Gratisangebot gilt den ganzen Sommer über. Die Frauen aus Köln und Freiburg wirken sehr interessiert an unseren jeweiligen Camino-Erfahrungen. Sie erzählen, dass die Auslandsseelsorge von den deutschen Bistümern bezahlt wird. „Da sind die Kirchensteuern aber sinnvoll ausgegeben“, sage ich zu einer der Frauen, welche zustimmend nickt. Beim gut besuchten Rundgang schließlich gewährt uns die Gruppenleiterin einige höchst interessante Ein- und Aussichten, indem sie uns zu ausgewählten Stellen des Gotteshauses führt, welche wir alleine nie gesehen hätten. Sie entlässt uns mit einem Auszug aus dem „Nachtzug nach Lissabon“ von Pascal Mercier. Es freut mich, noch etwas spirituelle Nahrung für den Nachhauseweg mitnehmen zu können, denn der steht nun endgültig an.
Zum Abschluss: Was bleibt von einer Reise?
Es ist heute der 25. Juli 2023 - Fest des Heiligen Jakobus. Wieder sind einige Wochen ins Land gegangen und ich sehe unseren Camino noch immer deutlich vor mir. Er wirkt in mir nach, und die gemeinsam mit meinem Ehegefährten verbrachte Zeit in Nordspanien hat uns reifen lassen. Wir haben uns in unerwarteten Situationen wiedergefunden und unsere Schwächen besser kennengelernt und sie gemeistert.
Wir denken sehr, sehr gern zurück und beginnen bereits bruchstückhaft eine zweite Pilgerschaft ins Auge zu fassen, wobei wir uns einig sind, dass uns der belebte Weg des Camino Francés kaum reizt. Stattdessen möchten wir den einsamen Camino del Norte, den wir im Frühling gegangen sind, zur Herbstzeit im nächsten Jahr wiederholen. Was wir partout nicht wollen: Die Fehler unserer ersten Pilgertour noch einmal machen! Nie wieder werden wir zu viel Gepäck mitnehmen, zu große Entfernungen planen. Niemals wieder wollen wir gleich am ersten Tag schlecht sitzende, zu enge Schuhe tragen ... Wir möchten andere gemachte Erfahrungen sehr wohl umsetzen: Etwa netten Compañeros frühzeitig unsere Handynummer weitergeben, um uns am Abend gegebenenfalls auf ein Bier mit ihnen zusammensetzen zu können, zu telefonieren oder später Erinnerungen auszutauschen.
Zu Beginn meiner Reiseschilderungen habe ich von einer „begnadeten Zeit“ geschrieben. Was wollte ich damit sagen?
Ich durfte die tiefe Erfahrung machen, dass es sich lohnt, nicht aufzugeben. Du, der du das liest, schreibe es dir ins Herz: Es geht weiter, wie dunkel und unbezwingbar der Weg auch mitunter erscheinen mag. Manchmal führt dein Weg auf einer anderen Spur weiter oder endet irgendwo, um an anderer Stelle weiterzugehen. Wir haben uns einige Male bei dem Gedanken ertappt, alles hinzuschmeißen. Manchmal wusste ich nicht mehr weiter, fühlte mich irgendwo zwischen Start und Ziel der jeweiligen Tagesetappe gefangen. Wenn ich aufgegeben hätte, hätten wir uns ein Auto oder Taxi besorgen müssen. Aber wie? In meiner Not rief ich den Apostel Jakobus an, immerhin der Schutzpatron von uns Pilgern. Er stand geistig am Ende meiner Reise und wartete auf mich, so kam es mir vor. Ich sagte zu ihm: „Wenn du es warst, der mich gerufen hat zu dieser für mich spektakulären Pilgerschaft, dann hilf mir bitte auch, ans Ziel zu kommen!“ Ich sprach innerlich mit großem Nachdruck, unmissverständlich, denn ich hatte keine Wahl. Und siehe da, der Heilige antwortete mir, ich beruhigte mich - irgendwie - und schöpfte Kraft, wo eigentlich keine Kraft mehr war oder ich bekam neue Ideen, was zu tun sei. Diese Grenzerfahrung machte ich nicht nur ein einziges Mal. Mal sprach ich mit Gott, mal schaltete ich den Apostel oder andere mir sympathische Heilige ein, Männer wie Frauen. Sie leiteten mein verzweifeltes kleines Gebet „verdoppelt und verdreifacht“ an den Allerhöchsten weiter. Es ist, als ob ich einen anderen, mir nahestehenden Freund um sein Gebet bitte, welches mich mitträgt und mein Anliegen „stärker wahrnehmen lässt im Himmel“.
Sie waren meine Für-Sprecher im Himmel. Das weiß ich jetzt wohl. Wir trafen gute Menschen, die uns großzügig weiterhalfen: Autofahrer hielten bei Regenwetter an, um uns mitzunehmen, was wir jedoch dankend ablehnten, weil wir ja „pilgerten“. Andere kamen uns preislich entgegen, erledigten unsere Wäsche spottbillig oder schenkten uns ein Frühstück, und ... und ... und. Großartige Menschen! Zur Nachahmung empfohlen. Auf dem Weg hörten wir hunderte Male den fröhlichen Gruß "Buen Camino!“ - „Einen guten Weg!“ - von Entgegenkommenden, Vorbeiziehenden, Einheimischen, von Pilgern aus aller Herren Länder, vom Fahrrad aus gerufen, vom Auto, vom Motorrad aus. Eine bunte freundliche Vielfalt. Einmal - in Asturien - wanderten wir gedankenverloren vor uns hin, plötzlich hörten wir ein kräftiges „Buen Camino!“ Wir hatten doch niemanden gesehen! Wir blickten auf und suchten, wo der Ruf hergekommen war. Da entdeckten wir weit entfernt einen Bauer an seiner Scheunentür stehen, der uns zuwinkte. Wir winkten zurück: „Gracias!“
Eine Grunderfahrung dieser Pilgerschaft lehrt uns: Wir dürfen angstfreier mit unserem Leben umgehen! Gott, wie auch immer du über ihn denkst, führt dich! Vertraue darauf! Es lohnt sich und macht glücklich!
Ich habe eingangs von einem „Sehnsuchtsland“ geschrieben. Dieses Land muss nicht Spanien sein, es könnte auch Cornwall, Franken, Schleswig-Holstein heißen oder direkt vor der Haustür liegen. Ich bin der Meinung, dass sich dieses „Land der Sehnsucht“ eigentlich im Inneren unserer Seele befindet. Der Camino ist ein Aufhänger für viele Erfahrungen, die du ebenso gut in deiner Heimat oder sonst wo machen kannst: Extreme, Grenzerfahrungen, Höhen und Tiefen. Das „Sehnsuchtsland“ bedeutet für mich, dass ich mich hinauslehne aus meiner vertrauten Szenerie in ein unbekanntes, von mir noch nicht erforschtes Land, dass ich offen bin dafür und mich verändern lasse von dem Neuen und Unbekannten.
Meine Frage „Womit beginnt eine Reise?“ hängt noch immer an der Küchenspüle. Manchmal komme ich wieder ins Träumen. Dann erinnere ich mich an „unseren Camino“ im Frühling 2023 und sehe meinen Mann und mich bereits bei unserem nächsten Camino, irgendwann im Herbst. Sankt Jakob ruft bereits wieder!
Abschließen möchte ich diese Reiseerinnerungen an „eine begnadete Zeit“ mit den Worten des Dichters Novalis, die ich kürzlich in meinem Abreißkalender fand. Oder fanden die Worte mich? Sie stammen aus dem Roman Heinrich von Ofterdingen. Die schlichte Frage mit überraschender Antwort hat - ebenfalls - in meiner Küche einen Ehrenplatz gefunden. Die Worte werden sicher auch dich ansprechen, der du mir bis zum Ende gefolgt bist:
„Wo gehen wir denn hin? Immer nach Hause.“
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Spurenwechsler bedanken sich ganz herzlich bei Franka Frieß und ihrem Ehemann für diesen eindrücklichen Reisebericht! Vielen Dank, dass ihr uns mitgenommen habt!
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Dieser Beitrag gibt die subjektive Sicht von Franka Frieß wieder. Sie verantwortet als Autorin die Inhalte wie die Bilder. Alle in diesem Bericht gegebenen Empfehlungen oder vorgenommenen Bewertungen stehen nicht mit Werbehonoraren o. ä. in Verbindung. Des Weiteren ist jegliche indirekte Werbung in diesem Beitrag nicht intendiert, der Beitrag ohnehin unbezahlt und keineswegs kommerziellen Ursprungs.
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