Eine Pilgerreise durch das nördliche Spanien (Camino del Norte)
von Franka Frieß - 24.08.2023
Einleitung: Die Verheißung an der Küchenspüle
„Womit beginnt eine Reise?“ Diese Frage schrieb ich vor zwei, drei Jahren nieder und hängte sie - in einer stillen Vorahnung wohl - an die Wand vor unserer Küchenspüle. Sie war mir wichtig, diese Frage, gleichzeitig erschien sie mir rätselhaft. Ich wusste nicht, dass sie mich schon bald fortführen würde in ein Land meiner Sehnsucht. Dies meine ich eher im übertragenen Sinn, denn Spanien gehörte nicht zu meinen Traumländern. Mich hatte stets der ruhigere und kühlere Norden Europas fasziniert. Manchmal hielt ich inne und blickte darauf, unwissend und zweifelnd, gleichzeitig magisch verführt von meinen eigenen Worten. Sie waren wie die Kieselsteine in „Hänsel und Gretel“, die den Geschwistern den Weg nach Hause wiesen. Die Worte ließen mich träumen wie ein Kind, das dem Hier und Jetzt entschwindet und sich hinaus beamt in eine noch unentdeckte Welt. „Womit beginnt eine Reise?“ Ich hatte mir selbst die Antwort gegeben und sie niedergeschrieben: „Mit einem Herzen voller Sehnsucht!“
Heute auf den Tag vor vier Wochen (am 18. Mai 2023) sind wir zurückgekommen. Ich sehe meine Reise bereits in der Retrospektive, reibe mir die Augen und „zwicke“ mich innerlich während ich mich frage: War meine Pilgerschaft Wirklichkeit oder träume ich noch immer, vor der Spüle in unserer Küche stehend? Wir waren fort - ganze vier Wochen - auf dem wohl bekanntesten Weg der Welt, dem Jakobsweg - dem Camino -, den es im Singular so tatsächlich gar nicht gibt, denn es sind ihrer viele. Getreu dem Motto „Viele Wege führen nach Rom - äh: Santiago de Compostela“ ist das gemeinsame Ziel der vielen Pilgerwege die galicische Stadt im Nordwesten Spaniens mit dem Grab des Apostel Jakobus. Sie gehen von Dublin, Trondheim, Görlitz, Warschau, Lemberg, Budapest, Zagreb, Brindisi, Marseille aus u.v.m.
Der beste Kamerad, mein Ehemann, bestätigt mir von Zeit zu Zeit, dass ich nicht träume. Er ist der Zeuge unserer Reise, er und ich erlebten schließlich alles hier Geschilderte gemeinsam. Und immer wieder erzählen wir uns wechselseitig von unseren Abenteuern als Pilger. Dann halten wir inne und unsere Augen beginnen zu leuchten. Wir werden nicht müde, uns zu bestätigen, dass der Camino eine Offenbarung für uns ist und zu den Highlights unseres Lebens zählt. Und die können wir an einer Hand abzählen, denn wir sind wählerisch …
Wir reden hier vom Pilgern, nicht vom Wandern. Diese Akzentuierung ist uns wichtig, denn wir sehen uns als "Pilger unseres Lebens". Der Camino ist sozusagen ein Lebensweg in Miniatur - mit Höhen und Tiefen, mit sonnigen Erlebnissen und Schattenseiten. Wir betten uns ein in die große Schar der Pilgerinnen und Pilger, die seit dem 9. Jahrhundert n. Chr. - zu diesem Zeitpunkt wurde der Jakobsweg einst begründet - zum Grab des Heiligen Jakobus, wall(t)en. Es scheint die Menschen seit dem Mittelalter magisch anzuziehen.
Jakobus gehörte - der christlichen Erzählung nach - zusammen mit seinem Bruder Johannes zu den erstberufenen Jüngern Jesu. Wegen ihres wohl ungestümen Temperaments wurden die beiden stets die „Donnersöhne“ genannt. Jakobus - so die Chronisten - wurde als erster Zeuge Jesu mit dem Schwerte hingerichtet, der erste christliche Märtyrer seiner Zeit. Er gilt heute als der Nationalheilige von Spanien und der Patron der Pilger. Sein Gedenktag ist der 25. Juli. Um ihn ranken sich zahlreiche Legenden.
Der so genannte Camino Primitivo (Einfacher Weg) war der erste und ursprüngliche Weg, der von König Alfons II im 9. Jahrhundert n.Chr. begründet wurde und zunächst von Oviedo bis nach Santiago de Compostela über das Festland führte (siehe Grafik unten). Wir selbst haben den so genannten Camino del Norte (Nordweg) entlang der Küste Nordspaniens genommen. Er wird auch Camino de la Costa (Küstenweg) genannt, weil er zu einem großen Teil unmittelbar an der wundervollen Nordküste Spaniens entlangläuft. Er ist eher unbekannt und gilt zumeist noch als Geheimtipp unter den Jakobswegen, nur etwa 6 % aller Pilger gehen ihn. Hätten wir schon im Vorfeld unserer Reise gelesen, dass er recht schwierig sein soll, dann hätten wir ihn uns womöglich gar nicht zugetraut. Doch so erfahren wir davon - Gott sei Dank! - erst im Nachhinein.
Von seinem Startpunkt in Irun an der französischen Grenze bis nach Santiago de Compostela ist der Camino del Norte ganze 850 km lang. Wir sind ihn vom Flughafen Oviedo aus insgesamt 300 km gegangen. Die folgende Skizze aus meinem Pilgerausweis zeigt unsere Route ab Avilés etwa, dort in der Nähe liegt der Flughafen.
So viel zum Vorgeplänkel, nun nehme ich dich mit auf unsere große Pilgerschaft. Ich teile gerne mit dir einige meiner Notizen und Fotos. Meist waren es Collagen, die abends an meine Familie gingen. Sie stammen aus der Zeit unseres Pilgerwegs vom 18. April bis zum 17. Mai 2023. Es sind persönliche Erinnerungen an eine für uns „begnadete“ Zeit. Ich stutze, während ich dieses eher ungebräuchliche Wort niederschreibe, aber: Es passt!
Meine Aufzeichnungen stellen selbstverständlich keinen Sachbericht dar - derer gibt es unzählige - und jede/r Interessierte wird fündig in einer Fülle von Reiseliteratur und Filmen. Die nachfolgenden Aufzeichnungen sind vielmehr unsere subjektiven Erlebnisse, geschildert aus einem teilweise philosophisch-spirituellen Blickwinkel. Vielleicht wecken sie ja in dir den Wunsch, den Camino ebenfalls zu pilgern? Das würde mich freuen!
Unsere erste Etappe (Oviedo - Cudillero) - Von Anfängerfehlern und technischen Hürden
Nach siebenstündiger Wanderung vom Flughafen Oviedo aus, teils durch Eukalyptuswälder, die ich bisher noch nicht kannte, und vorbei an interessiert blickenden Pferden wie geduldig muhenden Kühen mit bimmelnden Glocken am Hals, kommen wir in dem malerischen Fischerstädtchen Cudillero an. In der Retrospektive war dieser erste Tag - zusammen mit einer weiteren Etappe vielleicht, von der du noch lesen wirst - der anstrengendste unserer gesamten Pilgerreise! Unerfahren wie wir waren, haben wir die veranschlagte Länge von 22 km doch ein wenig unterschätzt und ein paar echte Anfängerfehler begangen:
Zuhause sind wir ein paar Mal eine Etappe von vier km gelaufen, die uns nicht sonderlich schwergefallen sind. Diese haben wir mit fünf multipliziert und sind auf 20 km gekommen. Auch war ich bereits mit meinem neuen Rucksack auf einem eher bergigen Stück Waldweg gelaufen oder die sogenannte „Extratour Michelsberg“ - circa zehn km - von unserer Haustüre aus. Das war es dann aber auch schon, unser gesamtes Training! Leicht naiv wie wir offenbar waren, haben wir gedacht: Das müsste doch gehen! Im Nachhinein raufe ich mir die Haare bei so viel Unbedarftheit ... Tatsache jedenfalls: Auf einer längeren Strecke dieser Art sind wir eben nicht eingelaufen gewesen und unsere unerfahrenen Füße schmerzten während dieser Etappe doch schon erheblich - es sind halt noch keine abgehärteten „Pilgerfüße“.
Mein lieber Gefährte übrigens hat noch zusätzlich alle Warnungen bezüglich "neuer Schuhe" nicht ernst genommen, denn er wanderte in welchen, die noch nicht eingelaufen waren. Er muss einen hohen Preis dafür zahlen. Aber ich will ganz leise sein, habe ich doch selber Fehler gemacht … Auch merken wir schnell: Unser Gepäck ist zu schwer! Dabei habe ich meinen Rucksack mehrmals zuhause gepackt, gewogen, Sachen rausgeschmissen, wieder eingepackt, nochmals gewogen und, und, und. Ich sehe noch alle meine Kleidungsstücke und Reiseutensilien auf dem Bett verteilt, die Waage danebenstehend … Die Ratschläge von erfahrenen Pilgern, die wir in unserem Heimatstädtchen aufgesucht haben, haben wir zu verwerten versucht. Trotzdem scheuert das Gepäck und es reiben die Schuhe. So ruckele ich meinen Rucksack nach links und nach rechts, ich nehme die Gurte weiter, dann enger, ich schnurre den Beckengurt mal fest, mal locker, um meinen Rücken zu entlasten. Es hilft alles immer für eine gewisse Zeit, dann ändere ich wieder die Position ...
In Cudillero schließlich, finden wir mit großer Mühe unser vorgebuchtes Apartment, das versteckt am Hügel des Fischerstädtchens liegt. Komischerweise kennt niemand die Adresse und keiner kann uns weiterhelfen. Wir müssen dem Vermieter erstmal eine Mail senden, denn telefonisch ist er nicht erreichbar. Man schickt uns nun ein Foto der Eingangstür, die wir jetzt finden, aber den Türcode können wir nicht eingeben: Man schickte uns nur einen Buchungscode, den ich versuchsweise eintippe, der aber natürlich nicht passt. Der Türcode ist uns versehentlich nicht mitgeteilt worden - ein Versäumnis des Vermieters. In einer zweiten Mail wird uns dieser schließlich gesandt.
Endlich in der Unterkunft angekommen, freuen wir uns - nach dieser Aufregung - auf eine Tasse Tee. Wir wollen uns auch ein paar Lebensmittel besorgen, denn wir haben wohlweislich eine Wohnung mit "Küche" gebucht, um uns hier nach dem ersten Pilgertag selbst versorgen zu können. So haben wir wenigstens gedacht. „Der Mensch denkt, und Gott lenkt. Der Mensch dachte und Gott ...“
Wir haben alles, was zu einem modernen Haushalt gehört, eine Waschmaschine, ein Bügelbrett, einen Staubsauger, einen Herd und so weiter, aber wir können nichts davon nutzen. In der gesamten Wohnung gibt es keinerlei Anleitungen, wie man den modernen Herd hier gebrauchen kann, mit seinen rot blinkenden Leuchtzahlen, die man höher und tiefer stellen und mit weiteren kryptischen Zeichen navigieren kann. Aber so etwas kennen wir schlicht nicht, obwohl wir schon oft in gemieteten Apartments die Ferien genossen haben - zusammen mit unseren Kindern, die da allerdings auf dem neuesten Stand sind. Jetzt fühlen wir uns doch ein wenig dumm, noch nicht auf dem Niveau dieser zivilisierten Spanier! "Vielleicht sind wir ja doch zu alt für solche Sperenzchen?", geht es mir durch den Kopf, "immerhin sind wir ja Gruftis aus der Generation 60plus ..." Als wir nun auch beim
Fernsehgerät im Wohnzimmer scheitern, in dem wir Anleitungen für die Küchenzeile vermuten, sind wir ein wenig konsterniert: Hier läuft lediglich "Radio Maria" - mit Rosenkranz und auf Spanisch ... Will uns da etwa jemand ärgern? Vielleicht ist das Programm aber auch nur eine gezielte Einladung für religiöse Pilger zum Gebet? Wir haben diese Einladung jedenfalls nicht als solche wahrgenommen ...
Zu guter Letzt bekomme ich die Mikrowelle angeschmissen! Juhu! Ich mache etwas Wasser heiß! Für einen Tee reicht es erstmal! Mehr aber ist nicht drin heute ... Der Herd bleibt kalt! "Dann gehen wir eben etwas essen!" Am Ende dieses ersten harten Tages aber schaffen wir den Weg zu einem Restaurant nicht mehr ... Wir schlafen mit knurrenden Mägen, noch in Wanderklamotten, auf dem Bett ein.
Unsere zweite Etappe (Cudillero - Soto de Luiña) - Bekanntschaften unterwegs
Der zweite Tag führt uns von Cudillero aus etwa zehn Kilometer gen Westen, nach Soto de Luiña. Wir pilgern nur wenige Stunden, aber alles ist fast so anstrengend wie gestern, vor allem wohl, weil uns der Vortag noch in den Knochen steckt.
Wir übernachten in einem liebevoll eingerichteten Hotel am Rande des Städtchens. Es war früher eine Schneiderei und eine Art Modeschule, daher werden alte Exemplare von Nähmaschinen, mehr oder weniger verblichene Fotos vergangener Modejournale und Zubehör zum Nähen ausgestellt. Sehr interessant! Ich bleibe oft im Treppenhaus auf dem Weg zu unserem Zimmer stehen und betrachte die Kostbarkeiten aus früheren Zeiten.
Am Morgen beim Frühstücken reden wir mit einer recht desillusionierten Pilgerin aus Dänemark, die sehr gut Deutsch spricht, da ihre Mutter Deutsche ist. Sie klagt über Schmerzen im Knie, die sie beim Bergabgehen spürt. Ich berichte ihr, dass es sich wahrscheinlich um einen Meniskusriss handelt, denn diese Schmerzen kenne ich auch. Mein Knie wurde diesbezüglich einmal geröntgt und man attestierte mir einen Schaden zweiten Grades.
Die Frau mittleren Alters hat bereits telefonisch ein Busticket bestellt, das sie zur nächsten Stadt bringen wird. Sie will erst noch ihr Knie ausruhen lassen, bevor sie weiter pilgert. Sie tut mir
leid - gleich am Anfang wieder abfahren zu müssen anstatt zu pilgern, das ist schon hart. Ich hoffe, sie kann später doch noch per pedes unterwegs sein.
Unsere dritte Etappe (Soto de Luiña - Ballota) - Erste Glücksgefühle beim Pilgern
Das Pilgern fällt uns heute deutlich leichter als bisher. Vielleicht sind wir doch schon etwas besser eingelaufen als am Anfang unserer Tour? Es fängt nun langsam an Spaß zu machen: Gehen, wandern, stehenbleiben, Rast machen, wieder aufbrechen, weiterpilgern, reden, schweigen, den Gedanken nachhängen, still sein, die Natur sehen, hören, riechen ...
Wir übernachten in einem Dorf, das im Grunde nur aus wenigen Häusern entlang einer Straße besteht. Wir haben nichts gebucht, aber finden im einzigen Hotel von Ballota eine preisgünstige Bleibe. Der Wirt kredenzt uns ein einfaches, sehr gutes spanisches Abendessen mit einem köstlichen Hausrotwein. Für heute sind wir vollauf zufrieden ...
Unsere vierte Etappe (Ballota - Canero) - Ungeplanter Zwischenstopp: Ein Unwetter zieht auf
Unser Stopp in Canero ist eigentlich nicht geplant und doch nötig: Es zieht ein Unwetter auf und darauf bin ich gar nicht erpicht. Ich will da nicht weiter pilgern. Eine Frau vor einem einsamen Hotel mitten im Wald spricht uns an. Vermutlich stehen wir recht verloren in der Landschaft herum und überlegen, wie es weitergehen soll. Sie ist die Besitzerin und bietet uns ein Zweibettzimmer an. Nach einigem Hin und Her nehmen wir das Angebot an. Die Regenponchos bleiben also - noch ungeöffnet - im Rucksack. Für heute ziehen wir noch einmal den Rückzug vor.
Ganz in der Nähe des Hotels liegt eine schöne Badebucht, die sehr malerisch sein soll, wie die Besitzerin uns versichert. Natürlich würden wir den schmalen Waldweg zur Bucht - ein kurzer Abstecher vom Haus nur - sehr gerne unternehmen, aber bei dem Regen, der mittlerweile auf das Land und den Camino herunter prasselt, vergeht einem natürlich die Lust ...
Unsere fünfte Etappe (Canero - Luarca) - Furchteinflößende Wälder, Piratenstädtchen und der große Regen ...
Auf unserer Tagestour Richtung Luarca kommen wir durch einen verbrannten, sehr unheimlichen Wald, in dem es immer noch kokelt und wo nach wie vor Glutnester zu erkennen sind. Sie stammen von einem Brand im März 2023, wie wir später erfahren, also noch gar nicht allzu lange her. Der strenge rauchige Geruch steigt mir in die Nase und lässt mich ein wenig unruhig werden. Wie schnell kann der Wind die Glut wieder entfachen? Wo ist der nächste Ausgang aus dieser Gefahrenzone? Wie weit ist es bis zur Straße, wo ich eventuell Hilfe holen kann? Ich blicke besorgt zu den kleinen aufsteigenden Rauchsäulen, will ich doch sofort wissen, ob sich die Glutnester wieder entfachen. Ich lasse meinen Mann deutlich hinter mir und laufe in einem „Affenzahn“, obwohl der Rucksack drückt und auf meinem Rücken hin- und her schwenkt. Solch einen Sprint habe ich kein zweites Mal während unserer Pilgertour eingelegt. Ein bisschen fühle ich mich schuldig, weil ich meinen Gefährten zurück und „im Stich lasse“. Der denkt nicht daran, sein Tempo zu erhöhen, oder er kann es einfach nicht. Ich beruhige mein schlechtes Gewissen, naja, dann kannst du immerhin für ihn die Feuerwehr holen ...!
Wir legen nach etwa siebzehn km Pilgerweg heute mal einen "faulen Nachmittag" in Luarca ein, einem hübschen "Piratenstädtchen". Die Brücke, auf der du mich auf der Collage unten siehst, führt über den Fluss Negro, sie heißt „Kussbrücke“ nach einer alten, sehr traurigen Sage. Diese erzählt, dass die Stadt im Mittelalter von grausamen Piraten heimgesucht wurde, von denen der berühmteste unter ihnen der Pirat Cambaral war. Eines Tages gelang es dem Gouverneur von Luarca, Cambaral schwer zu verwunden. Die Tochter des Gouverneurs bat ihren Vater, den verletzten Piraten pflegen zu dürfen und es kam, wie es kommen musste: Die beiden - Cambaral und das schöne junge Mädchen - verliebten sich ineinander und beschlossen zu fliehen. Als sie sich laut Sage an ihrem geplanten Fluchtort - auf dieser Brücke - leidenschaftlich küssten, wurden sie vom Gouverneur entdeckt, der sie in seiner unermesslichen Wut mit dem Schwert tötete. Ihre Körper blieben ineinander verschlungen während ihre Köpfe ins Meer rollten ... Deshalb sagt man noch heute, dass man in Mondnächten das Geflüster der Liebenden aus dem Meer hören kann ... Sehr traurig, diese Sage!
Du siehst auf der Collage auch, in welchen Flipflops meine Füße plus Socken am Feierabend jeweils stecken. Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten. Die von unserer Tochter geliehenen Badesandälchen tun meinen Füßen einfach gut und die Erholung selbiger ist ja auch eine wichtige Pilgertugend ...
Dieses wunderschöne Städtchen Luarca werden wir bestimmt noch einmal besuchen, um mit mehr Zeit und Muße seine Geschichte kennenzulernen, denn Luarca birgt neben der Sage
um die Kussbrücke viele weitere - belegte - Fakten aus der Vergangenheit. Ein Beispiel: Der Nobelpreisträger für Medizin Severo Ochoa wurde 1905 hier geboren. Sein
Geburtshaus in Luarca kann man heute besuchen. Er forschte übrigens auch eine Weile in Heidelberg.
Es ist Wochenende und so beschließen wir noch über den Sonntag in Luarca zu bleiben, denn es regnet nun doch heftig. Gut, dass es auch Ziele mit einem Dach in Luarca gibt: In der Pfarrkirche beeindrucken mich zwei wundervolle Statuen, die ich ausnehmend schön finde und die ich (beinahe) stundenlang betrachten könnte: Der auferstandene Jesus und seine Mutter Maria.
Zum Abschluss erlässt uns beim Bezahlen der nette alte Herr, der stets an der Bar in der Nähe der Kasse sitzt - vermutlich der Seniorchef - das zweite Frühstück. Ich
glaube, er ist ein wenig beeindruckt von dem Ehepaar aus Deutschland, das diese Pilgerschaft wagt. Darüber hinaus imponiert ihm offenbar mein Weggefährte, der so gut Spanisch spricht. Auch vermute ich, dass manch einer leicht wehmütig an eigene Versäumnisse denkt. Vielleicht wurden Pläne nicht in die Tat umgesetzt oder man konnte dies nicht ...?
Links: Luarca am Abend, Luarca, Spanien (Foto Franka Frieß)
Oben: Die im Text beschrie-benen Skulpturen ... Luarca, Spanien (Fotos Franca Frieß)
Unsere sechste Etappe (Luarca - Navia) - Beschwerlichkeiten des Pilgerns und Improvisation ...
Heute dürfen wir unsere neuen Regenponchos auspacken. Leider regnet es auch am kommenden Tag noch immer - aber das kann uns heute nicht mehr aufhalten... Die nagelneue, noch originalverpackte Ware aus einem Outdoorgeschäft unserer Heimat ist ihr Geld auch wirklich wert, die Ponchos sind tauglich! Sie packen alles ein, uns mitsamt unserem Rucksack auf dem Rücken. Sieht zwar komisch aus, ist aber praktisch, weil nichts nass wird.
Wir schaffen die 20 km heute nach Navia relativ locker und erreichen den Ort bereits gegen drei Uhr am Nachmittag, da wir in Luarca sehr früh - schon in der Dunkelheit vor dem Frühstück - aufgebrochen sind. Es gefällt uns hier in Nordspanien mittlerweile richtig gut, unsere Laune ist bestens und besteht fort. Die freundlichen Menschen, das saubere Land, das gute Essen, die schöne Natur, EINFACH leben, einfach LEBEN ... Was will man mehr?
Wären da nur nicht unsere Anfangsfehler aus den ersten Tagen ... Mein Mann hat inzwischen große Blasen an den Fußsohlen und ich leide unter Knieproblemen. Dazu gesellen sich bei mir drei blaue Zehen, die von Druckstellen meiner eigentlich guten Wanderschuhe stammen. Für zu Hause waren sie stets passend, aber da bin ich keine sieben Stunden am Stück mit sieben Kilogramm Gepäck gelaufen, und meine Füße haben sich in Spanien durch das fortgesetzte Laufen deutlich ausgedehnt. Besonders beim Abwärtsgehen spüre ich den Druck der mittlerweile zu klein gewordenen Schuhe ... Nachdem ich sie ein paar Tage an meinem Rucksack baumelnd mit mir rumgeschleppt habe, ringe ich mich durch, sie wegzugeben und stelle sie schweren Herzens auf einen Container entlang des Camino. Ich habe die Hoffnung, eine Pilgerin mit kleineren Füßen kann die an sich guten Schuhe noch gebrauchen. Ich wünsche dieser Unbekannten, dass meine schönen Schuhe - noch dazu in meiner Lieblingsfarbe Weinrot - ihr Glück bringen, dass sie vor allem gut sitzen.
Nun gehe ich abwechselnd in meinen orthopädischen Sandalen und in ausgelatschten Laufschuhen, die vorne so breit sind, dass meine Zehen nicht schmerzen. Diese petrolgrünen Treter aus einem deutschen Discounter sind bereits alt. Ich erinnere mich, ich habe sie vor acht Jahren für unsere Parisreise, die wir noch mit unseren Kindern gemacht haben, für unter zwanzig Euro gekauft. Sie haben mir unglaubliche Dienste geleistet: 2015 in Paris, noch formschön und vorzeigbar, besuchten sie Notre Dame, damals noch unzerstört von dem unglaublichen Feuer. 2016 kletterten sie auf den spektakulären Hängen von Machu Picchu herum. Auf weiteren Reisen betrachteten sie die jeweiligen Sehenswürdigkeiten und verloren dabei stetig an Schönheit. Und jetzt, 2023 auf dem Camino, sind sie leicht unförmig und verbraucht. Ich wollte sie schon mehrere Male wegschmeißen, aber konnte mich nie dazu durchringen. Mindestens fünfmal in der Maschine gewaschen, habe ich sie aus einer Laune in letzter Minute in meinen Rucksack gepackt. Das ist eine richtige Entscheidung gewesen. Jetzt bin ich so froh darüber. Zurück in Deutschland, ein sechstes Mal gewaschen und befreit vom Staub unseres Caminos, stehen sie in meinem Schuhregal und sprechen zu mir: „Dass du uns nicht vergisst bei deinem nächsten Camino!“ – „Nein, das werde ich nicht.“
Unsere siebte Etappe (Navia - Tapia de Casariego) - Verschollene Seefahrer und schmackhafter Tintenfisch
Der Tag ist zweigeteilt: Zunächst laufen wir - von Navia aus - durch Wäldchen und kleine Dörfchen einfache Wege und Pfade, stets hoch und runter. Mein Meniskus warnt mich hier und da, besonders beim Abwärtsgehen meldet er sich nun beständig. Daher laufen wir die zweite Etappe entlang der Nationalstraße N-634. Sie steigt gleichmäßig an ohne große Ups and Downs. Diese Nationalstraße führt den Autofahrer übrigens von San Sebastian nahe der französischen Grenze bis nach Santiago de Compostela. So schaffen wir doch unsere 21 km, sind jetzt aber auch ganz schön geschafft.
Müde kommen wir in Tapia de Casariego an, einem bezaubernden Küstenörtchen. Wir freuen uns sehr, dass wir das alles trotz unserer Wehwehchen irgendwie schaffen. Der Himmel dankt unserem Engagement und verschenkt Kraft, die uns selbst erstaunt. Auch begegnen wir „Engeln am Wegesrand“, herzensguten Menschen, die uns weiterhelfen bei Fragen und Problemen. Ein Mann bietet uns an, uns wegen des Regens zum nächsten Etappenziel zu fahren, doch wir lehnen freundlich ab, das lässt unser Pilgerstolz nicht zu … Es tut aber so gut, solchen Menschen zu begegnen. Und ich nehme mir einmal mehr vor, stets freundlich und hellhörig Menschen gegenüber zu sein, die auf Hilfe angewiesen sind. Auch wir sind immer einmal wieder im Leben Fremde und wir sind auf Freundlichkeit angewiesen. So wie jetzt auf dem Camino. Dies ist eine heilsame Erfahrung!
In Tapia de Casariego bleiben wir für zwei Tage, weil wir unsere feuchte Wäsche unbedingt waschen und trocknen müssen. Der Besitzer des kleinen Hotels ist rührend um unser Wohl besorgt und leitet unsere Schmutzwäsche in eine Wäscherei weiter. Schön gebügelt und zusammengelegt, in drei Plastiktüten verpackt, bekommen wir sie sauber und trocken zurück. Das Ganze kostet uns unglaubliche fünf Euro - fast geschenkt, ohne einen Finger gekrümmt zu haben! Sonst müssen wir unsere Kleidung immer selber waschen und trocknen. Der gleiche Mann steht, wann auch immer wir das Hotel betreten oder verlassen, bereit, um uns die Tür zu öffnen. Er gibt uns auch einen tollen Tipp, wo wir phantastisch essen können. Dort werden wir bewirtet wie die Könige. Ausnahmsweise probiere ich dort sogar ein paar Tintenfische. Sie schmecken gar nicht so schlecht … Danke hier nochmal an unseren mustergültigen Hotelier!
Unten siehst du ein anrührendes Monument zur Erinnerung an jene, die auf hoher See gearbeitet, gekämpft, gelitten haben - und geblieben sind. Meine Schwester, die lange in Irland gelebt hat, schreibt mir, dass es auf der grünen Insel viele solcher Denkmäler gibt. Das Meer gibt, das Meer nimmt … Hier in Tapia de Casariego ist der Respekt vor dem Meer groß und die Trauer um die Toten und Verschollenen allgegenwärtig. Es gibt Tafeln, an den Haus- und Felswänden angebracht, die die traurige Geschichte von jenen erzählen, die nicht heimgekehrt sind. Mein Mann und ich stehen davor und lesen sie mit Anteilnahme und Respekt.
Jenseits von uns liegen grob gesagt: Die Bretagne, Cornwall und Irland. Meiner Freundin aus der Nähe von Canterbury sende ich einige Fotos von Tapia de Casariego. Sie schreibt, dass sie diese Bilder aus Nordspanien an ihre englische Heimat erinnern. Das wundert mich nicht.
Unsere achte Etappe (Tapia de Casariego - Ribadeo) - Genuss und Abschied von der Küste Spaniens ...
Wir verlassen die Provinz Asturien, einst das „Königreich Asturien“, und kommen in die Autonome Gemeinschaft Galicien, welche sich wiederum in vier Provinzen untergliedert. Man unterscheidet übrigens zwischen „Galicien“ in Nordwestspanien und „Galizien“ in Südpolen und in der Westukraine! Zunächst etwas verwirrend für uns!
Wir sind gute 15 km gepilgert heute und kommen jetzt in Ribadeo an - über eine fast 1 km lange Brücke, die Asturien mit Galicien verbindet. Auf ihr wird mir leicht mulmig und jetzt kommt mir auch noch eine Frau auf dem engen Fußgängersteg entgegen ...! Sie trägt merkwürdig sperrige Pflanzen mit sich, welche wie Kraken nach mir zu greifen scheinen. Man fragt sich unwillkürlich, warum jemand solche Ungetüme per pedes von West nach Ost trägt, noch dazu auf einer so langen Brücke? Sind das Sonderangebote in Ribadeo/Galicien, die es in Asturien nicht gibt? Vielleicht hat diese ältere Dame kein eigenes Auto oder ist nicht die Reichste im Land, möglicherweise erfreut sie sich ihrer Schnäppchen, die sie in Ribadeo gemacht hat? Das alles aber spielt gar keine Rolle mehr, je näher ich der Frau komme: Die wichtigste Frage nämlich ist: Wer von uns beiden wird nun gleich auf der Außenseite am Geländer entlang gehen müssen, mit dem angsteinflößenden Blick in die Tiefe?
Die Spanierin drückt sich schließlich an das Gitter, das die Auto-Schnellstraße vom Fußgängerweg trennt, während sie stehen bleibt. Mir also bleibt die heikle Rolle, mich mitsamt Rucksack an der Außenseite des Geländers an ihr vorbei zu zwängen, meinen Mann im Gefolge und unter uns das Meer ... Mein lieber Gefährte sagt sogar noch `Gracias´ zu der Frau! Diese Höflichkeitsfloskel habe ich in diesem Moment - trotz meiner, so glaube ich, guten Kinderstube - tatsächlich vergessen. Mir sträuben sich die Nackenhaare und sie tun es auch jetzt noch, während ich das alles niederschreibe.
Ribadeo schließen wir sofort in unser Herz. Es gefällt uns gut mit seinen Kopfsteinpflastergässchen, seinen winkeligen und versteckten Straßen und den vielen kleinen Kneipen voller Leben. Gleichzeitig hat es moderne Geschäfte mit allem, was man zum Leben braucht. Wir entspannen bei vino tinto (Rotwein), mein Mann genießt erneut den pulpo (Tintenfisch) und ich ein Gericht ohne Meerestiere, denn die sind mir nach wie vor suspekt ...
Es gibt in Nordspanien übrigens kaum Weißbrot, wie es sonst eher üblich ist in Spanien, sondern häufig Graubrot, das fast so schmeckt, wie in Deutschland. Auf dem Foto oben kannst du es auch sehen! Auch stellen wir erstaunt fest, dass die asturischen und galicischen Gerichte wenig mit Knoblauch gewürzt sind. Dabei sind wir doch bislang immer der Meinung gewesen, dass die Spanische Küche generell großzügig mit der von uns geschätzten Knolle verfährt ... Und der Kaffee in Spanien? Wir können ganz klar sagen: Erste Sahne! Ich habe noch nie einen zu dünnen Kaffee hier getrunken. Er war immer kräftig und aromatisch, ganz nach unserem Geschmack. Dazu passt das Gebäck der Spanier: Es hat es in sich: Wir haben ein Konditorei- und Bäckereilädchen, eine sogenannte Panadería, in einer der Seitengassen entdeckt, wo wir jetzt tüchtig zulangen. Geheimtipp für jeden Caminopilger!
Wir müssen - nein, wir dürfen - eine Nacht länger in der Küstenstadt Ribadeo bleiben, weil die nächste Unterkunft entlang unseres Weges auf Grund eines Festivals ausgebucht ist. Wir nehmen diese Verlängerung dankend hin, denn wir trauern dem Meer - von dem wir uns nun langsam verabschieden müssen - schon heute nach: Mit dem Camino nämlich geht es ab morgen ins Landesinnere weiter. Wir müssen also schon bald "Adieu!" sagen - zu Wellen und Gischt, zu Möwengeschrei und schaukelnden Booten.
Außerdem wohnen wir in einem hübschen preiswerten Hotel, direkt am Meer liegend, und nur einen Katzensprung von der Innenstadt entfernt. Ein richtiger Volltreffer! Mit dem hilfsbereiten Rezeptionsangestellten Marco plaudern wir immer wieder gerne. Ein Mann mit Gemüt! Er gibt uns einen tollen Wandertipp zu einem Leuchtturm in der Nähe, den wir gleich am nächsten Tag besuchen. Wir wissen mit Sicherheit, dass wir dieses kleine Hotel wieder buchen werden, wenn wir erneut hierher kommen sollten ...
Klar, den zusätzlichen Tag in Ribadeo nutzen wir auch, um „unserer" Panadería einen allerletzten Besuch abzustatten! Die Angestellte kennt uns schon und lächelt. Wir loben wiederholt ihre Kuchen, Teilchen und selbstgemachten Süßigkeiten und genießen diese Köstlichkeiten auf einer der nahegelegenen Bänke, während wir dem Treiben in der Stadt
zusehen.
Am Sonntag in der Kirche entdecke ich diesen Heiligen mit Hund, der es mir angetan hat. Ein Pilger - so wie wir - mehr konnte ich zunächst nicht über ihn herausfinden. Gut, dass mein Bruder mir einige informative Zeilen über WhatsApp sendet:
Ich weiß nun, dass dies den Heiligen Rochus darstellt, der der Überlieferung nach aus reichem Elternhaus in Montpellier stammte. Als Zwanzigjähriger verlor er Mutter und Vater, verschenkte daraufhin sein gesamtes Vermögen an Bedürftige und schloss sich den Franziskanern an. Als Pilger auf dem Weg nach Rom pflegte er im Jahre 1317 n. Chr. Pestkranke. Der Legende nach heilte er viele, indem er ihnen ein Kreuz auf die Stirn zeichnete. Als er selbst an der Pest erkrankte, fand sich niemand, der ihn pflegte. Undank ist der Welten Lohn!
Er zog sich in eine einsame Waldhütte zurück, in die ihm ein Hund täglich Brot brachte, und nahm die Unterstützung der Pesterkrankten nach seiner Genesung wieder auf. Viele verdankten ihm ihr Leben. Als er nach der Pilgerschaft in seine Heimatstadt Montpellier zurückkehrte, erkannte man ihn dort aufgrund der ihn entstellenden Narben nicht mehr wieder. Er wurde als vermeintlicher Spion in den Kerker geworfen, wo er fünf lange Jahre in Gefangenschaft leben musste - bis er starb. Erst nach seinem Tod identifizierte man den verarmten Fremden anhand eines kreuzförmigen Muttermals auf der Brust als Rochus von Montpellier, der auch noch aus allerbestem Hause stammte.
Heute ist der Heilige Rochus von Montpellier unter anderem der "Patron der Kranken, der Ärzte und der Pilger". Zu seinen Attributen gehört der Hund mit dem Stück Brot in der Schnauze, der Pilgerstab sowie der Pilgerhut. Sein Gedenktag ist der 16. August, der überlieferte Todestag.
Unsere neunte Etappe (Ribadeo - Villamartín Grande) - Warum nur immer diese Umwege ...?
Oh, was ist das für ein anstrengender Tag! Nur etwa 20 km, jedoch mehr als erwartet, teils bergauf und bergab, hoch und runter, der Weg will und will nicht enden. Wir gehen lange Phasen ohne einen klaren Wegweiser. Außerdem werde ich den Eindruck nicht los, die führen uns hier bewusst im Zickzack durch die Landschaft. Sind das nicht Umwege, die wir gehen? Offenbar führt uns das Kulturamt - oder wer auch immer diese Pilgerwege hier gestaltet, plant und markiert - ganz bewusst zu kulturellen und naturbezogenen Sehenswürdigkeiten und zieht dadurch unsere Tagesetappe mit Bögen und Schleifen in die Länge.
Ehrlich gesagt, bin ich einfach nur müde und will in die nächste Unterkunft. Gerade pfeife ich auf Kultur- und Naturhighlights! Am Schluss unserer Tagesetappe entdecke ich spät - an einem Punkt, an dem wir uns bereits vor einer guten Stunde befanden - eine kleine asphaltierte Verbindungsstraße. Das also wäre der richtige Weg gewesen! Und der hätte es auch getan, denke ich etwas enttäuscht. Wir müssen schließlich jeden Tag mit unseren körperlichen Ressourcen haushalten und sehen, wie wir zurecht kommen. Umwege müssen da nicht auch noch sein!
Irgendwie scheint die Routenführung in Galicien komplizierter zu sein als in Asturien. Wenigstens erscheint es mir nach dem heutigen Tage so ... Mein Mann bestätigt dies aber nicht. Einig sind wir uns jedoch, dass in Galicien die Wegweiser regelmäßiger als in Asturien angebracht sind. Diese Etappe heute von Ribadeo nach Villamartín Grande ist allerdings die Ausnahme von der Regel, denn wir müssen mehrmals nach Wegweisern suchen.
Als wir endlich in der Herberge von Villamartín Grande ankommen, entdecken wir, dass sie all unsere bisherigen Unterkünfte in den Schatten stellt. So hat sich der anstrengende Tag doch noch gelohnt und wir werden beschenkt. Sie ist liebevoll und mit Herz eingerichtet, alles ist picobello sauber und gut organisiert. Im angrenzenden kleinen Laden gibt es köstlichen frisch gebackenen Kuchen, Kaltgetränke und Souvenirs. Wir setzen uns für eine Cola an einen kleinen runden Tisch vor dem Lädchen. Mein Mann kauft einen Pilgerhut, von dem er schon lange schwärmt und dann kommt der Moment, mal wieder stolz auf uns zu sein: Unterwegs hatte uns ein junges deutsches Pärchen überholt, das erst jetzt - lange nach uns - in der Herberge ankommt. Wir scheinen sie offenbar irgendwo überholt zu haben ... Ich bin sooo stolz, dass WIR schneller sind als dieses junge Paar, dabei hätte ich unterwegs sterben können vor Erschöpfung ...
Ich habe heute unser Unterfangen ernsthaft in Frage gestellt! Zu alt für sowas, zu unsportlich, zu naiv, zu viele Schrammen und Wehwehchen. Autsch. Mein Mann hat den Camino ebenfalls verwunschen. Wir hätten am liebsten aufgegeben. Da ist doch der Erfolg gegenüber dem jungen Pärchen genau richtig für unsere geschundenen armen Seelen und alten Körper! Aber eine Stimme in mir mahnt: Vielleicht haben die zwei ja nur eine längere Rast gemacht oder einen Umweg genommen? Egal! Heute hat es diesen Trost spendenden Gedanken an unseren Triumph einfach gebraucht!
Der junge Herbergsvater unserer Unterkunft zaubert uns am Abend noch das köstlichste spanische Menü, das wir in den vier Wochen genossen haben (siehe oben)! Es geht doch nichts über Hausmannskost! Eine Minestrone - eine spanische Gemüsesuppe -, eine Paella - eine Reispfanne mit Meeresfrüchten - und ein wundervolles Dessert mit Crème fraîche und Kirschen haben uns den Tag kulinarisch abgerundet. Hmmmh!
Wir sitzen zudem mit einer lustigen Polin aus Katowice, ihr Name ist Teresa, beim Abendessen zusammen, die genauso kräftig zulangt wie wir. Die Frau mittleren Alters erzählt, dass sie ihre Reiseerlebnisse für eine Zeitung niederschreibt. Ihr begegnen wir noch mehrere Male, machen unterwegs Fotos und Selfies. Ich würde mich nicht wundern, wenn irgendwo in einer polnischen Zeitung unser Dreierfoto auftauchen würde. Leider vergessen wir, unsere Telefonnummern auszutauschen ... Bedauerlicherweise sind wir diesmal nicht "auf Zack“. Im Nachhinein finde ich das sehr schade.
In derselben Unterkunft lernen wir auch eine Pilgerin aus Oberbayern kennen. Wir treffen sie zunächst am Morgen in der Küche und dann einige Male an verschiedenen Rastplätzen unserer Tagesroute. Die Frau, um die 70 Jahre, wirkt sehr sportlich. Sie sucht das Gespräch, sie ist eine ausgesprochen offene Person. Es sprudelt nur so aus ihr heraus - natürlich zünftig bayrisch - als sie erzählt, dass sie ihren ersten Camino abbrechen musste, weil ihr rechtes Auge Probleme bereitete und der „Professor“ ihr dringend geraten hatte, bei Auffälligkeiten die Strapazen abzubrechen. Genau das musste sie schließlich tun. Mittlerweile wurde dieses kranke Auge sogar entfernt und ein künstliches eingesetzt. Ich wundere mich, denn ich habe nichts Auffälliges bemerkt! Nun wandert sie also den fehlenden Part ihres abgebrochenen Camino und gibt nicht auf. Sie sagt, sie wolle ihren Pilgerweg unter allen Umständen zu Ende bringen und tut alles, um diesen ihren Traum zu verwirklichen.
Just am Morgen des Gespräches in der Küche hadere ich mit meinen eigenen Augenproblemen infolge einer früheren Operation. Ich bin unzufrieden wegen der täglich einzunehmenden Augentropfen sowie Augensalbe und wegen der ständig zu tragenden Sonnenbrille. Diese Begegnung also zeigt mir sogleich: Die Frau hat weit größere Probleme als ich, klagt nicht und nimmt ihr Schicksal wirklich toll an. Vielleicht nehme ich sie mir mal zum Vorbild?!
(...)
Und hier endet der Teil 1 unserer Reisereportage "Auf dem Jakobsweg - Erinnerungen unserer Pilgerschaft nach Santiago de Compostela"!
Wenn Ihr sofort weiterschmökern und Franka und ihrem Ehemann auch weiterhin auf den Spuren bleiben wollt ...
... folgt ihnen hier zum Teil 2 ihrer Pilgerreise auf dem Jakobsweg!
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Spurenwechsler danken Franka Frieß für diesen Beitrag!
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